Freitag, 15. Februar 2013

Diskussionsbeitrag von Julia Edthofer






Is it? Or is it not? Beitrag zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der dekolonialen Theorie


1. Einleitung und politischer Anspruch:

Dieser Text bezieht sich auf aktuelle Debatten in der Wiener Linken, er ist als Reaktion auf Konflikte im Umfeld des „Europäischen Instituts für Progressive Kulturpolitik“ (EIPCP) zu lesen und soll einen Beitrag zur differenzierten Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der dekolonialen Theorie sowie speziell im Umfeld des „Projektes Modernität/Kolonialität“ leisten. Die Diskussion in Wien entzündete sich im Jahr 2011 an der Wiener Akademie der Bildenden Künste an Kontroversen über antisemitische Deutungsmuster und problematische Israelpositionierungen in Texten des dekolonialen Theoretikers Walter Mignolo und wurde im April 2012 mit einer Intervention von Eduard Freudmann an eine breitere Öffentlichkeit getragen[1]. Mein Beitrag knüpft an diese Intervention und speziell an Ivana Marjanovićs Analyse des umstrittenen Textes „Dispensable and Bare Lives. Coloniality and the Hidden Political/Economic Agenda of Modernity[2] an und beschäftigt sich ebenfalls mit den strittigen Teilaspekten der dekolonialen Kritik. Der besagte Text ist Teil einer Spezialausgabe des dekolonialen Internetjournals „Human Architecture“, die sich aus den Beiträgen der 2007 durchgeführten Konferenz „The post September 11 New Ethnic/Racial Configurations in Europe and the United States: The Case of Anti-Semitism” zusammensetzt. Ich analysiere vier Beiträge dieser Ausgabe und fokussiere auf deren spezifische Auseinandersetzung mit Antisemitismus sowie auf Israelpositionierungen (vgl. Ellis 2009; Grosfoguel  2009, Mignolo 2009a, Slabodsky 2009). Vor allem gehe ich dabei kritisch auf Texte von Walter Mignolo und Ramón Grosfoguel ein und setze diesen Fokus, da sich bei beiden Theoretikern meines Erachtens problematische Verquickungen der Analyse von Modernität/Kolonialität mit der Diskussion von globalem Antisemitismus sowie der geo-politischen – und dabei vor allem neo-kolonialen – Bedeutung des israelischen Staates finden. Die von mir kritisierten verkürzten Positionen der beiden Autoren betrachte ich dabei als spezifisch für de- und auch post-koloniale linke Debatten im Kontext aktueller israelkritischer Boykott- und Desinvestitions-Kampagnen, bei denen dem Staat Israel mitunter die Rolle der kolonialen Supermacht mit Bedrohungspotenzial für den Weltfrieden zugeschrieben wird.
Es soll bei meiner kritischen Auseinandersetzung nicht darum gehen, dekoloniale Ansätze und Standpunkte zu desavouieren oder hier das falsche Bild zu transportieren, der gesamte theoretische Ansatz würde auf Israel und damit verbundene Diskussionen um Counter-Terrorismus, antimuslimischen Rassismus sowie neuen Antisemitismus fokussieren. Viel prominenter als im südamerikanischen Kontext, in dem die dekoloniale Perspektive entwickelt wurde, sind solche Debatten im Überschneidungsfeld de- beziehungsweise post-kolonialer Kritik und politischer Praxis im angloamerikanischen und europäischen Raum. Um also einer anglo- beziehungsweise eurozentristischen Lesart meines Textes entgegen zu steuern, beginne ich mit einem kurzen Abriss dekolonialer Auseinandersetzungsfelder und deren politischer Impulse für linke Gesellschaftskritik.[3] Spezielles Augenmerk liegt dabei auf dem Umfeld des „Projektes Modernität/Kolonialität“, das sich mit der Ko-Konstituierung von Moderne und Kolonialität auseinandersetzt. Im Anschluss diskutiere ich die meiner Ansicht nach problematischen Elemente aktueller dekolonialer Debatten um globalen Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und Israel und schlage Moishe Postones (1988) Konzept des „strukturellen Antisemitismus“[4] als Analysetool vor, um diese zu erfassen. In meiner Diskussion gehe ich konkret auf die historisch-genealogische Auseinandersetzung mit der antisemitischen Rassifizierung von Jüdinnen und Juden sowie auf die Rolle des israelischen Staates in den Analysen ein. Als symptomatisch betrachte ich dabei das Negieren von aktuellem Antisemitismus und die Konstruktion von Israel als „Täterstaat“ und „Speerspitze“ des kapitalistischen neo-kolonialen Weltsystems. Abschließend spanne ich den Bogen zurück zu den aktuellen Auseinandersetzungen in Wien und schlage potenzielle Themenfelder für weiterführende Debatten vor. In diesem Kontext möchte ich mittels einer kurzen Reflexion über spezifische Dynamiken postnazistischer innerlinker Debatten um Antisemitismus eine weitergehende Diskussion über auslösende Momente und „Dead-Ends“ der Auseinandersetzung anregen.


2. Das Projekt Modernität/Kolonialität als politisches Theorieprojekt und antirassistische Epistemologie der Befreiung

Das „Projekt Modernität/Kolonialität“ ist ein dem postkolonialen Theoriespektrum sowie den Cultural Studies verwandtes politisches Theorieprojekt, das durch den Einbezug dependenz- und weltsystemtheoretischer Ansätze an einer materialistisch (und lokal) verankerten Kritik und Rekonzeptualisierung euro- und anglozentristischer Elemente der Moderne arbeitet. Spezieller Fokus liegt dabei auf kolonialen Rassismen und deren aktueller Wirkmächtigkeit oder – anders ausgedrückt – deren Fortleben im postkolonialen Zeitalter.  Drei zentrale Theoretiker des Ansatzes sind Enrique Dussel, Aníbal Quijano und Walter Mignolo (vgl. Garbe 2012: 97). Durch den Einfluss des ersteren ist dekoloniale Kritik von der südamerikanischen Befreiungsphilosophie geprägt und beschäftigt sich dementsprechend auch mit Möglichkeiten der Selbst-De-Kolonisierung im neokolonialen (sprich globalisierten und neoliberalen) Weltsystem. Daher versteht sich das Projekt auch nicht als rein akademische Veranstaltung, sondern sucht die Verbindung zu sozialen Bewegungen sowie die Auseinandersetzung mit aktivistischer, nicht-akademischer Wissensproduktion.
Ein starker Fokus liegt auf der Kritik der (europäischen) Moderne und deren historischem Zusammenwirken mit Imperialismus, Kolonialismus und modernen biologistischen Rassismen. Modernität/Kolonialität wird dabei als ein globales und auf Machtasymmetrien basierendes Projekt  analysiert, in dem Eurozentrismus als „moderne/koloniale Wissens- Repräsentations- und Reproduktionsform“ (ebd.: 90) fungiert. Kurz zusammengefasst meint Dekolonialität also das Aufzeigen und die Analyse von epistemischer Gewalt und deren materieller Einbettung in der kolonialen Moderne sowie die Erarbeitung eines „epistemischen Ungehorsams“ zu deren Überwindung (vgl. Mignolo 2011). Diese politische Aufforderung zur kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Eurozentrismus und epistemischer Gewalt sowie das Zusammendenken von Ausbeutung, materieller Ungleichheit und deren ideologischem Überbau, eröffnet meiner Meinung nach wichtige Perspektiven für linke Politik, welche eine Reflexion über die eigene Verstrickung in post-koloniale Rassismen in einem postnazistischen Raum ermöglichen. Dekoloniale Ansätze arbeiten an einer standpunkttheoretischen „Entkoppelung“ [„de-linking“] von westlichen, universalistischen Erzählungen und an der Entwicklung einer „Epistemologie der Grenze“ [„border thinking“], die von den Erfahrungen rassifizierter Subjekte ausgeht: „Die Epistemologie der Grenze geht mit der Dekolonialität Hand in Hand, denn die Dekolonialität konzentriert sich darauf, die Bedingungen der Auseinandersetzung zu verändern, und nicht nur deren Inhalt. (…) Man muss sich auf das Reservoir jener Lebensformen und Denkweisen hin bewegen, die seit der Renaissance von der christlichen Theologie ausgeschlossen wurden und von der säkularen Philosophie und den Wissenschaften ausgeschlossen blieben“ (ebd.: 2). Wichtiger Teil des politischen Projektes – und zentral in den Arbeiten von Walter Mignolo – ist daher die Dekonstruktion moderner, kolonial-rassistischer und okzidentalistischer Epistemologie(n) und die Arbeit an einer nicht-eurozentristischen und rassistischen epistemologischen Perspektive; dies umfasst die Entwicklung einer „Grammatik der Dekolonialität“ ebenso wie die Auseinandersetzung mit „postokzidentaler Kritik“ (vgl. Mignolo 2002). Denn, so Mignolo, „Dekolonialität [kann] weder Kartesianisch noch Marxistisch sein. (…) Der Ausgangspunkt der Dekolonialität in der dritten Welt verknüpft sich mit dem ´migrantischen Bewusstsein´ in Westeuropa und den USA“, und findet sich „in den Verbreitungsrouten des dekolonialen Denkens und des Grenzdenkens“ (Mignolo 2011: 2).
 Prinzipiell erteilt die dekoloniale Perspektive in Europa entwickelten gesellschaftskritischen Ansätzen und Konzepten jedoch keine generelle Absage; Dussel und Quijano beziehen sich beispielsweise dezidiert auf marxistische Ansätze wie Dependenz- oder Weltsystemtheorie. Diese werden aber bei Quijano immer lokalisiert, also an der lokalen (peruanischen) empirischen Realität geprüft (vgl. Garbe 2012: 112). Allerdings lassen sich bezüglich der Rezeption beziehungsweise Abgrenzung von europäischen oder amerikanischen Theoriekonzepten unterschiedliche Zugänge ausmachen. Mignolo stellt mit seiner Arbeit an einer „postokzidentalen“ Epistemologie eine eher euro- beziehungsweise anglo-skeptische Position innerhalb des Rezeptionsspektrums dar, die zuweilen auch ins Dichotomische kippt. Beispielhaft hierfür ist die Auseinandersetzung des Autors mit dem Moment des Widerstandes, also der De-Kolonisierung (der eigenen Person, der Wissensproduktion, der gesellschaftlichen Verhältnisse, etc.), die sich, der standpunkttheoretischen Perspektive folgend, nicht zuletzt aus der individuellen wie kollektiven (und kollektivierten) Erfahrung des Rassisifizert-Werdens speist. In diesem Zusammenhang entwickelt Mignolo die interessante These, dass richtungsweisende europäische Gesellschaftkritik und Emanzipationsbestrebungen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert aus jüdischen Subjektpositionen entstanden. Konkret bezieht er sich dabei auf Karl Marx und Sigmund Freud und sieht deren Gesellschaftskritik sowie speziell die theoretische Arbeit an universalistischen Emanzipationskonzepten darin begründet, dass beide mit antisemitischer Diskriminierung oder in Mignolos Worten mit „rassifizierenden Differentialen“ konfrontiert waren. Die daraus entwickelte, anti-partikularistische Gesellschaftsanalyse und -kritik, bezeichnet er daher als „innere (inner-europäische, J.E.) De-Kolonisierung“. Allerdings endet seine Argumentation apodiktisch und schließt aus, dass eine Übertragung marxistischer Konzepte auf Kämpfe der De-Kolonisierung im globalen Süden möglich sei. Dies sei zuvorderst der Tatsache geschuldet, dass die eurozentristische Perspektive nicht überwunden werden könne und es daher unmöglich sei, die Parallelen und Differenzen von innereuropäischer Ungleichheit und kolonialer Unterdrückung in den Blick zu nehmen (vgl. Mignolo 2007b: 486). Damit lässt er allerdings frühe Auseinandersetzungen mit Kapitalakkumulation, Imperialismus und Kolonialismus, wie sie beispielsweise Rosa Luxemburg in ihrer Imperialismustheorie schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts formulierte, unbeachtet. Auch Hannah Arendts Analyse des Zusammenhangs von Imperialismus, Antisemitismus und Rassismus, die ihrerseits auf Luxemburg aufbaut, wird ausgeklammert (vgl. Arendt 1986). Zudem greift die Kritik zu kurz, da sie den Einfluss von „Travelling Theories“ (Said 1983) und damit die globale Verwobenheit von Wissensproduktionen negiert. Die Tendenz, bei der notwendigen Kritik an eurozentristischem Rassismus dichotomisierend und einem manichäischen Weltbild folgend vorzugehen, wurde auch im Zuge der aktuellen Wiener Auseinandersetzung kritisch diskutiert. So merken Jens Kastner und Tom Waibel an, dass Mignolo „westliches Wissen“ und „westliche Gesellschaftskritik“ mitunter als abzulehnenden monolithischen Block behandelt, ohne dabei zu reflektieren, dass gleichzeitig ein starker Bezug auf die kritisierten Wissensbestände – wie beispielsweise den Marxismus – besteht. In diesem Zusammenhang weisen die Autoren zudem auf antisemitische Elemente von Mignolos Israel-Kritik hin, etwa wenn er jüdischen Kollektiven eine „Kompliz_innenschaft“ mit der „aktuellen Machtstruktur“ attestiert.[5]
Im folgenden inhaltlichen Hauptteil beschäftige ich mich mit diesem speziellen Aspekt eines dichotomisierenden Zugangs zur gesellschaftskritischen Wissensproduktion und illustriere dabei zwei problematische  Argumentationsstränge in den Texten von Walter Mignolo und Ramón Grosfoguel. Zum einen interessiert mich die historisch-genealogische Diskussion der spezifischen Rassifizierung von Jüdinnen und Juden, zum anderen die geopolitische Rolle, welche dem israelischen Staat zugeschrieben wird. Dabei zeige ich, wie die Analyse beider Autoren in Polemik kippt, sobald sie sich israelkritisch positionieren. Im Zuge dessen greifen beide auf Deutungsmuster zurück, die sich meiner Beobachtung nach in verschiedensten anti-, de- oder postkolonialen sowie auch in antiimperialistischen politischen Positionierungen wiederfinden und strukturell antisemitische Elemente beinhalten, bei denen ein monolithisch konstruierter, hegemonial-rassistischer „Westen“ mit jüdischen Kollektiven und Positionen sowie mit dem Staat Israel amalgamiert.


3. Dekoloniale Debatten um Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und Israel nach dem elften September 2001

Als Reaktion auf den von der Bush-Administration nach den Anschlägen auf das World Trade Center proklamierten „Krieg gegen den Terror“, geht es im weiteren personellen Umfeld des Projektes Modernität/Kolonialität in den letzten Jahren verstärkt um die kritische Auseinandersetzung mit  neo-kolonialer Geopolitik. Ab 2006 wurden dazu im Umfeld des Editorial Boards des dekolonialen Internetjournals „Human Architecture“ mehrere internationale Konferenzen organisiert; zwei fokussieren auf anti-muslimischen Rassismus und eine auf globalen „neuen“ Antisemitismus nach 9/11. Die Beiträge dieser 2007 durchgeführten Konferenz „The post September 11 New Ethnic/Racial Configurations in Europe and the United States: The Case of Anti-Semitism” erschienen gesammelt in der siebten Ausgabe des Journals (vgl. Tamdgidi et al. 2009) und stellen die Texte dar, auf ich mich in meiner Auseinandersetzung hauptsächlich beziehe (vgl. Ellis 2009; Grosfoguel  2009, Mignolo 2009a, Slabodsky 2009).
Vorab ist zunächst festzuhalten, dass sich in den hier kritisch diskutierten Texten durchaus wichtige theoretisch-politische Analyseperspektiven für die Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von biologistischem Rassismus/Rassifizierung und Modernität/Kolonialität finden. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wird das Verhältnis von kolonialem Rassismus und Antisemitismus aus einer historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet und die Genealogien der jeweiligen Rassifizierungsformen nachgezeichnet. Darüber hinaus werden die Transformationen von antimuslimischem Rassismus und neuen Antisemitismus im Lichte der diskursiven Feind-Verschiebungen nach 9/11 diskutiert. Dieser doppelte Auseinandersetzungsfokus muss dabei als Reaktion auf den hegemonial werdenden anti-muslimischen Rassismus sowie als Beitrag zu  aktuellen Diskussionen um Israel und Divestment- und Boykott-Kampagnen in postkolonialen politischen Kontexten gesehen werden. Spätestens ab dem Libanon-Krieg 2006 gewinnen diese Kampagnen in europäischen und amerikanischen linken/linksradikalen Kontexten an Relevanz, wobei stark auf die anti/kolonialen Elemente des Nahost-Konflikts fokussiert wird.[6] Nachdem sich alle von mir rezipierten Texte politisch (und dezidiert israelkritisch) positionieren, vermischen sich darin zwei Ebenen: Grundsätzlich wird die Herausbildung des modernen biologistischen Rassismus und Antisemitismus aus einer dekolonialen Perspektive diskutiert, die euro- und anglo-zentristische Wissensproduktion durchkreuzt und durch die historische Schwerpunktsetzung wichtige Beiträge zu einer genealogischen Betrachtung unterschiedlicher Rassifizierungsmechanismen leistet. Insbesondere Mignolos Beitrag „Dispensable and Bare Lives“ eröffnet eine interessante Perspektive, indem er kolonialen Rassismus und Antisemitismus als ideologischen Überbau der kapitalistisch-imperialistischen europäischen Moderne analysiert. Allerdings, und dies ist dem speziellen politischen Fokus der Beiträge geschuldet, vermischen sich in den Texten epistemologisch-theoretische Überlegungen mit israelkritischen Positionierungen sowie mit Analysen der aktuellen politischen Lage in Nahost. Im Zuge dieses oft nicht explizierten Themenswitchings wird, so meine Kritik, polemisch anstatt analytisch argumentiert. Dabei werden (nett ausgedrückt) unzulässige Analogien – wie beispielsweise zwischen NS und dem israelischen Staat – bemüht sowie historisch gewachsene antisemitische Deutungsmuster auf aktuelle Realpolitik übertragen. Derartige diskursive Interventionen sind meines Erachtens Anknüpfungspunkte für strukturell antisemitische Argumentationslinien und dass, wann und wie das passiert, will ich im Folgenden anhand einer eingehenderen Darstellung der rezipierten Texte aus der genannten Spezialausgabe zur Diskussion stellen.
Ich beginne mit einer Kritik an Walter Mignolo und illustriere seine historisch-genealogische Diskussion der diskursiven Figur „Jüdin/Jude“ und deren Rolle im Prozess der Modernisierung / Kolonisierung sowie der damit verbundenen Herausbildung eines modernen biologistischen Rassismus. Diese setze ich einen kritischen Abgleich mit meiner Meinung nach differenzierter argumentierenden Beiträgen, wie zum Beispiel den von Santiago Slabodsky im gleichen Band. Dadurch will ich aufzeigen, dass Elemente von Mignolos Diskussion insofern problematisch sind, als sie nicht historisch-analytisch, sondern unter Rückgriff auf antisemitische Deutungsmuster argumentieren (vgl. hierzu auch die Kritik von Ivana Marjanović 2012).


3.1. Modernität / Kolonialität: Genealogien der Rassifizierung, „Constantinian Jews“ und Grenzen der Analyse

Prinzipiell beschäftigt sich Mignolo mit Genealogien der Rassifizierung innerhalb dessen, was er als „koloniale Matrix“ bezeichnet und analysiert den Übergang von religiösem Othering zu biologistischen Rassifizierungsprozessen ab dem ausgehenden 15. Jahrhundert. Diesen diskursiven Prozess setzt er dabei in Relation zu ökonomischen Veränderungen, namentlich zur beginnenden Herausbildung des imperialistisch-kolonialistischen Weltsystems. Eine ausführliche Diskussion des Textes findet sich in Ivana Marjanovićs Beitrag, weshalb ich nur kurz dessen Hauptargumente zusammenfasse und danach stärker auf andere Beiträge der Spezialausgabe eingehe, um meiner Ansicht nach falsch übernommene Argumente kritisch zu beleuchten.
Bei seiner Illustration der unterschiedlichen Rassifizierungsgenealogien unterscheidet Mignolo im Anschluss an Hannah Arendt zwischen „überflüssigem“ und „nacktem“ Leben, wobei ersteres ein Produkt des ideologischen Überbaus zur ökonomischen Ausbeutung rassifizierter kolonisierter/versklavter Kollektive bezeichnet und zweiteres die Konstruktion des europäischen jüdischen Kollektivs als „prototypische Andere“ im Zuge moderner Nationenbildung (Mignolo 2009: 76f). Mit Bezug auf Aimé Césaires „Choc en Retour“ verknüpft er schließlich die Herausbildung der „kolonialen Matrix“ mit der Shoah, indem er NS und eliminatorischen Antisemitismus als Rückspiegelung kolonialer Gewalt auf Europa betrachtet. Diese Rückspiegelung nennt er „Bumerang Effekt“, lässt dabei allerdings unter den Tisch fallen, dass sich diese Bezeichnung nicht bei Césaire, sondern in genau diesem Wortlaut bei Hannah Arendts Analyse der Ursprünge von Antisemitismus, Imperialismus und totaler Herrschaft findet (ebd.: 81; vgl. bei Arendt 1951: 206, 223)[7].
Die Rassifizierung unterschiedlicher Kollektive in der kolonialen Moderne zu analysieren und damit in einen historisch-ökonomischen Kontext zu setzen, eröffnet ganz prinzipiell eine wichtige politische Perspektive. Gerade im vergleichenden Nachzeichnen des diskursiven Shifts von religiösem Othering zu einem biologistisch rassifizierenden im Kontext der europäischen Expansion und Kolonisierung, liegt ein Denkansatz, der in politischen Auseinandersetzungen nicht fehlen darf, wenn die eigene Verstrickung in post-koloniale Rassismen reflektiert werden soll. Allerdings analysiert Mignolo in seiner Conclusio die jüdische Emanzipation im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts, im Zuge derer eine säkulare jüdische Identität [„Secular Jewness“][sic!] entsteht, als historischen Schlusspunkt der Rassifizierung, da – so die Argumentation – jüdische Kollektive in der Folge Teil des „weißen“ Kollektivs wurden. Dabei ignoriert er jedoch die Zwangslogik antisemitischer Rassifizierung, die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur jüdischen Emanzipation leistete, da diese auch als Projekt jüdischer Assimilation zur Vermeidung anhaltender Diskriminierung verstanden werden muss (für eine ausführliche historische Darstellung dieser Dynamik am Beispiel Deutschland vgl. Volkov 2000). Und auch die differentielle Inklusion im Zuge der jüdischen Emanzipation und Assimilation ist historisch betrachtet eine begrenzte und von kurzer Dauer, oder, wie Hannah Arendt bemerkt, „wenn Assimilation die Aufnahme von Juden in die nichtjüdische Gesellschaft bedeuten soll, so hat es eine Assimilation für die Massen selbst des emanzipierten Judentums nur sehr sporadisch gegeben“ (Arendt 1986: 193). Spätestens mit der Radikalisierung des Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert ist diese Phase endgültig vorbei und die eliminatorische Wendung des antisemitischen Ressentiments kündigt sich an. Mignolo allerdings setzt diese – bekanntlich vor der Shoah endende – Periode als den Beginn einer Distinktion unterschiedlicher Rassifizierungsformen und den Ausgangspunkt der „Kompliz_innenschaft“ zwischen jüdischem Kollektiv und westlichem Imperialismus (Mignolo 2009: 86f). Die diskursive Entwicklung eines eliminatorischen Antisemitismus sowie dessen Materialisierung im NS werden dann in der weiteren Argumentation ausgespart. Insofern wird nicht nur die Auslöschung des europäischen Judentums und die industriell organisierte Ermordung von 6 Millionen Menschen ausgeblendet, sondern auch deren ganz klar biologistisch-„rassen“basierte Grundlage. Im Prinzip endet die Argumentationsline dann damit, dass der mit der kolonialen Matrix verwobene Antisemitismus mit dem Aufgehen jüdischer Personen in einem „weißen (westlichen, imperialistischen) Kollektiv“ gleichsam überwunden und – so die Conclusio – gegenwärtiger Antisemitismus allein aus der Kompliz_innenschaft zwischen „Secular“ beziehungsweise „Constantine Jewness“ [sic!][8] und Kapital, die in der israelischen Staatsgründung 1948 kulminiert, zu erklären sei (ebd.: 87). Dies ist historisch falsch und speziell vor dem Hintergrund von NS und Vernichtungsantisemitismus eine problematische Behauptung. Allerdings fügt sich diese Betrachtung logisch in die politische Programmatik des Beitrags ein und verweist auf deren problematische Elemente. So ist die der Aussage zugrunde liegende analytische Inkonsistenz – denn einleitend findet die Shoah ja durchaus Eingang in Mignolos Argumentation, indem sie als „Choc en Retour“ der Kolonialverbrechen diskutiert wird – meines Erachtens bedeutsam und eben symptomatisch für die von mir hier kritisierten dekolonialen sowie auch für postkoloniale Israelpositionierungen: Die eigene israelkritische politische Verortung wird dort auf tendenziöse Weise mit der Analyse von Rassifizierungs-Genealogien verquickt und läuft implizit auf ein Gegeneinander-Ausspielen von Antisemitismus und anderen Formen der Rassifizierung hinaus. Im Abgleich mit zwei differenzierter argumentierenden Beiträgen aus der gleichen Spezialausgabe von „Human Architecture“, möchte ich meine Kritik noch genauer untermauern.
Eine andere Argumentationslinie verfolgt zum Beispiel Santiago Slabodsky, der sich in seinem Beitrag mit Transformationen des Antisemitismus in Relation zur israelischen Politik auseinander setzt. Wie Mignolo analysiert Slabodsky die Rassifizierung jüdischer Kollektive als modernes / koloniales Projekt, er betont dabei allerdings auch aktuellen Antisemitismus, der, wie er kritisch anmerkt, von den meisten anti-kolonialen israelkritischen politischen Positionen „in einem Vakuum“ belassen – sprich ignoriert – würde (vgl. Slabodsky 2009: 40). Zudem beschäftigt sich der Autor mit historischen Konjunkturen des Antisemitismus und nimmt die sich über die Jahrhunderte verändernde „Rolle“ der diskursiven Figur Jüdin/Jude in den Blick. Er illustriert, wie sich diese im Kolonialkontext von den „rassifizierten Anderen“ zum Kollektiv „imperialer Agent_innen“ wandelt und geht dabei auf ihre diskursive Funktion als Teil des ideologischen Überbaus in einem kolonialen imperialistischen Weltsystem ein: “Rephrasing this phenomenon [the “use” of “Jewishness”, J.E.] from the 16th to the 20th centuries, the use of the Jew within colonial discourses takes the following path: first, Jews are being projected as the paradigm of universal otherness to comprehend the foreign; second, certain groups are separated from others in virtue of their “Judaism” in order to reflect an intermediary and advanced force of imperialism” (ebd.: 45, meine Hervorhebung). Dieser diskursive Wandel, so Slabodsky weiter, platzierte jüdische Kollektive in eine Art „Mittelposition“ zwischen Kolonisator_innen und Kolonisierten, womit sie auch zu einer antikolonialen Projektionsfläche werden konnten. Damit expliziert er aus historischer Perspektive einen der fundamentalen Unterschiede zwischen der Funktionsweise von Antisemitismus und kolonialem Rassismus: die Vorstellung einer abstrakten und allumfassenden jüdischen Macht nämlich, die sich in diesem Fall als Vorstellung einer „advanced force of imperialism“ manifestiert  – ein Topos, der sich in veränderter Form auch in aktuellen de- und post-kolonialen Debatten um den israelischen Staat wiederfindet. So wird diese wichtige Unterscheidung bei Mignolo nicht nur ignoriert, sondern vielmehr der genannte Topos reproduziert. Unbeachtet bleibt bei ihm daher auch, dass der von Slabodsky beschriebene Formwandel den Prozess der Rassifizierung jüdischer Kollektive im Kolonialkontext selbst in keinster Weise aushebelt und dass ihm zudem eine Logik des „Teilens und Herrschens“ zugrunde liegt, die wiederum einen Beitrag zum antisemitischen Ressentiment leisten kann. „Teilen und Herrschen“ ist dabei keineswegs nur diskursiv zu fassen, sondern materialisierte sich mitunter auch sehr konkret, wie von Marion von Osten und Serhat Karakayalı in ihrer Analyse französischer Kolonialarchitektur in Casablanca zeigen. Die Autor_innen beschreiben die hierarchische Ordnung der Stadt  in „weiße“, „jüdische“ und „muslimische“ Viertel, wobei zweitere eine Art „Zwischenzone‘“ darstellten und letztere ganz außerhalb der Kernstadt lagen (vgl. von Osten / Karakayalı 2009: 116).
Ein solcher analytischer Zugang, der die ambivalente differentielle Inklusion jüdischer Kollektive ab dem 19. Jahrhundert sowie die Radikalisierung hin zum eliminatorischen Antisemitismus thematisiert und damit die Zuschreibung einer „Kompliz_innenschaft“ zwischen jüdischen Kollektiven und europäisch-amerikanischem Imperialismus verunmöglicht, ist bislang innerhalb der hier rezipierten dekolonialen Diskussionen unterrepräsentiert. Prinzipiell fokussieren diese mehr auf antimuslimischen Rassismus innerhalb der kolonialen Moderne und zeigen bezüglich der Auseinandersetzung mit Antisemitismus zusätzlich die Tendenz, ihn ab der israelischen Staatsgründung korrespondenztheoretisch als „selbstverschuldet“ zu postulieren (vgl. Gordon, Grosfoguel & Mielants  2009; Tamdgidi et al. 2006, 2010). Es wäre meiner Einschätzung nach daher wichtig, solche Perspektiven zu stärken, nicht zuletzt deshalb, weil sich die eben explizierte Logik in einigen Texten wiederfindet – beispielsweise bei Mignolo. Slabodsky, der sich zwar auf Mignolos Arbeiten bezieht, argumentiert daher im Grunde auch gegenläufig zu diesem, wenn es um Israel und die Rolle von Jüdinnen und Juden als rassifiziertes Kollektiv geht. Anstatt, wie Mignolo, die Figur der/des „konstantinischen Jüdin/Juden“ in Kompliz_innenschaft mit Kapital und Imperialismus zu setzen, analysiert er vielmehr die Funktion unterschiedlicher Rassifizierungsformen als ideologischen Überbau der kolonialen Moderne. Mignolo hingegen reproduziert mit einer verkürzten Rezeption von Marc Ellis´ Kategorie der/des „Constantinian Jew“ und deren Verbindung mit seiner Kritik am israelischen Staat die von Slabodsky kritisierte Logik der spezifischen Rassifizierung jüdischer Kollektive als „intermediäre und fortgeschrittene imperialistische Kraft“. Diese Verkürzung möchte ich im Folgenden illustrieren, indem ich abschließend Mignolos Rezeption mit Ellis´ ursprünglicher Konzeption der/des „Constantinian Jew“ abgleiche.
Marc Ellis beschäftigt sich im gleichen Band mit Kritik am israelischen Staat aus jüdischer, befreiungstheologischer Perspektive und differenziert in diesem Zusammenhang drei unterschiedliche politische „jüdische Subjektpositionen“, die sich für ihn in aktuellen Debatten um Israel, Antizionismus und Antisemitismus manifestieren. Diese benennt er als „progressive“, „bewusste“ und „konstantinische Jüdinnen und Juden“ [„Progressive“, „Conscious“ und „Constantinian Jews“]. Die beiden ersten Kategorien bezeichnen Personen mit links-liberalen bis links-radikalen Einstellungen; „Progressive Jews“ sind dabei Post- oder Nicht-Zionist_innen, die allerdings Israel als jüdischen Staat nicht in Frage stellen, während  „Conscious Jews“ – zu denen Ellis sich offensichtlich auch selbst zählt – dies sehr wohl tun. Ihnen gegenüber steht die Figur des „Constantinian Jew“, mit der rechts-liberal bis rechts-konservative und dem israelischen sowie US-amerikanischen Establishment angehörende Personen beschrieben werden. Ellis kreiert also mit den drei Begriffen empirische Kategorien, wobei letztere eine rechts-konservative Subjektposition darstellt, die sich in realen Personen manifestieren kann oder auch nicht. Das Risiko der Verkürzung, das jeder empirischen Kategorisierung von Personengruppen zugrunde liegt, zeigt sich in Mignolos Rezeption sehr deutlich. In dieser finden sich nämlich problematische Auslassungen, welche gerade die letzte empirische Kategorie zu einer essentialistischen Gruppenbeschreibung ontologisieren. Erstens rezipiert er ausschließlich die/den „Constantinian Jew“, die/der aktuellen Antisemitismus gleichsam herausfordere, als einzig erwähnenswerte und damit generalisierte jüdische Subjektposition – eine Darstellung, die von Ivana Marjanović zu Recht als antisemitisch kritisiert wird (vgl. Marjanović 2012). Zweitens ist anzumerken, dass Ellis mit seiner Kategorisierung im Grunde auch auf antagonistische politische Positionen verweist, die sich zum Teil zwar auf jüdische Geschichte und Identitäten berufen, aber nichtsdestotrotz eben politisch sind und daher nicht ausschließlich aus einer identitätspolitischen und essentialistischen Perspektive diskutiert werden können und sollen. Diesen Punkt, der zugegebenermaßen auch bei Ellis eine recht untergeordnete Rolle spielt[9], ignoriert Mignolo in seiner Rezeption der Kategorie der/des „Constantinian Jew“ ebenfalls vollkommen. Drittens legt Ellis ein Augenmerk auf die spezifische Geschichte jüdischer Rassifizierung und vor allem Verfolgung, die er auf die Transformationen jüdischer politischer Selbstverständnisse und Positionierungen nach Auschwitz sowie nach der israelischen Staatsgründung umlegt (vgl. Ellis 2009: 109f). Dieser differenzierte Blick verunmöglicht es, aus einer Logik der Kompliz_innenschaft, wie sie sich bei Mignolo manifestiert, zu argumentieren und einen unproblematischen, komplizenhaften Übergang vom rassifizierten zum „konstantinischen“ jüdischen Kollektiv zu postulieren.
Ausgehend von Mignolos Setzung des „Constantinian Jew“ als generalisierte Subjektposition möchte ich abschließend auf argumentative Leerstellen und Auslassungen der Debatte hinweisen. So weist die verkürzte Darstellung jüdischer Emanzipation sowie säkularer und „konstantinischer“ Jüdinnen und Juden argumentative Widersprüche auf und führt damit die Überlegungen des Autors bezüglich des einleitend diskutierten dekolonialen Gehalts bei Marx in gewisser Weise ad absurdum. Zum einen wird von ihm der gesellschaftskritische Beitrag Freuds weitgehend ausgespart. Zweitens, endet die Argumentation widersprüchlich: denn während bei Marx die unter die Haut gehende rassifizierende antisemitische Unterdrückung und Ausgrenzung zu Gesellschaftskritik führt, wird dies bei “Constantinian Jews“ – derer nämlich, die historisch betrachtet ebenfalls jüdische Emanzipation und „Assimilation“ in ein sie diskriminierendes Kollektiv vorantrieben – zu einer freiwilligen Kompliz_innenschaft mit dem Kapital. Meine Argumentation ist, dass solche analytischen Inkonsistenzen nicht zufällig sind, sondern systematisch in Zusammenhang mit polemischen israelkritischen Positionierungen auftreten – und dass dies als antisemitische Deutung analysiert werden muss. Zudem macht es erst mit einem solchen Framing Sinn, dass alle zitierten Autoren korrespondenztheoretische Analysen des Antisemitismus nach 1945 formulieren. Mignolo, Ellis und Grosfoguel konstatieren durchwegs ein im Verlauf des 20. Jahrhunderts vonstattengehendes jüdisches „Aufgehen“ im „weißen (imperialistischen) Kollektiv“ und betrachten aktuellen Antisemitismus als Reaktion auf die Gründung Israels sowie dessen aktuelle Politik. Eine Argumentation allerdings, die die israelische Staatsgründung als „Stunde Null“ postuliert, vergisst, dass diese unmittelbar mit genozidaler antisemitischer Rassifizierung in Zusammenhang stand. Auch in Bezug auf die Einschätzung, dass antimuslimischer Rassismus nach 9/11 die hegemoniale Form des Otherings darstelle und jüdische Personen eigentlich dominanzgesellschaftlich zu verorten seien, bleiben essentielle Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem europäischen Kontext ausgeklammert. So verbessert sich in den USA der sozioökonomische Status jüdischer Communities nach dem zweiten Weltkrieg und der damit zusammenhängende soziale Aufstieg leitet einen Prozess der Inklusion über De-Rassifizierung bzw. „Whitening“ ein (vgl. Brodkin 2010). Anders der europäische Kontext; nach dem Holocaust verbleiben hier zum einen nur sehr kleine jüdische Communities und es erfolgt eher eine differentielle Inklusion in die jeweiligen nationalstaatlichen Mehrheits- bzw. Dominanzgesellschaften. Durch solche Auslassungen folgt die Debatte einer Logik der „Betroffenheitskonkurrenz“: interessante Auseinandersetzungen mit historischen Genealogien von Antisemitismus und Rassismen enden recht abrupt im 20. Jahrhundert und Analyse wird zu politischer Polemik. Im Folgenden illustriere ich solche Wendungen anhand politischer Positionierungen zum israelischen Staat und arbeite heraus, dass strukturell antisemitische Deutungsmuster in gewandelter Form auf Israel projiziert werden.


3.2 Israel – eine koloniale Supermacht?

Im Folgenden beschäftige ich mich mit den Beiträgen aus dem Sammelband von Human Architecture, die  explizit auf den Zusammenhang von Nahostkonflikt und Antisemitismus eingehen (vgl. Ellis 2009; Grosfoguel  2009, Mignolo 2009a, Slabodsky 2009). Grundsätzlich ist dabei kritisch anzumerken, dass die von mir rezipierten Beiträge die israelische Staatsgründung aus korrespondenztheoretischer Perspektive als Grund für das aktuelle Ansteigen eines „neuen Antisemitismus“ diskutieren. Doch auch wenn empirisch einiges dafür spricht, dass sie als ein Auslöser für neuen Antisemitismus betrachtet werden kann, so kann sie sicher nicht zu dessen Ursache stilisiert werden. Genau das passiert allerdings in allen Texten – in Bezug auf Israel wird durchwegs aus einer schuldzuweisenden Perspektive argumentiert, während aktueller Antisemitismus in der arabischen Welt beispielsweise ausschließlich als reaktives Phänomen beziehungsweise gar nicht diskutiert wird. Zudem findet sich bei keinem der Autoren ein Hinweis auf die politische Bandbreite von Zionismen und somit auch keinerlei Verweis auf emanzipatorische Ansätze, wie sie beispielsweise rund um die Gruppe „Brit Shalom“ entwickelt wurden – ganz zu schweigen von deren Funktion als jüdische nationale Befreiungsbewegung. Dies verwundert aber nicht weiter, da es Bestandteil der politischen Programmatik der hier rezipierten Beiträge ist, den jüdischen Staat als „installierten Kolonialstaat“ zu konstruieren, der quasi die politische Antithese zur nationalen Befreiungsbewegung darstellt und somit unmöglich deren Ergebnis sein kann. Mignolo setzt dieser einseitigen Sichtweise allerdings im Vergleich die Krone auf, indem er – wie bereits kritisiert – eine direkte Linie von „Constantinian Jews“ zur israelischen Staatsgründung (beziehungsweise kolonialen Installation des Staates) zieht und diese ahistorische Darstellung an keiner Stelle durch die weitaus komplexeren historischen Informationen unterfüttert, wie sie beispielsweise Lewis Gordon, Ramón Grosfoguel und Eric Mielants in ihrer Einleitung zur Spezialausgabe diskutieren (dies., 2009: 5f). Konsequenterweise ignoriert die postulierte Kompliz_innenschaft mit Kapital und Neo-Kolonialismus daher auch die Tatsache, dass der Großteil der etwa 290.000 Einwanderer_innen ab Beginn der 1930er Jahre bis Anfang der 1940er aus europäischen Flüchtlingen und somit Überlebenden der Shoah bestand, weshalb der marxistische israelische Geograph Oren Yiftachel diese Einwanderungswelle auch als „colonialism of survival“ bezeichnet (Yiftachel 2008: 369; vgl. hingegen für eine Kritik an der überproportionalen Bewertung dieses Prozentanteils sowie der Koppelung von Shoah und israelischer Staatsgründung: Brumlik 2007: 28f).
Kritisch zu beleuchten sind auch Mignolos Positionen zur geopolitischen Rolle des Staates Israel, dessen Existenz er prinzipiell als vom Westen unterstützte jüdische Kolonisierung Palästinas und damit als politischen Auslöser für die Herausbildung des postkolonialen Theoriestranges Saidscher Prägung betrachtet (vgl. Mignolo 2007a: 163; 2009b: 41). Darüber hinaus gilt ihm der israelische Staat als ein Beispiel für eine extreme Ausformung orientalisierender kolonialer Machtausübung, die aufgrund ihrer außerordentlichen Repression „third spaces“ und Hybridität gleichsam verunmöglicht und somit auf die Zerstörung der kolonisierten ´Kultur´ hinauslaufen muss (vgl. ders. 2002: 934). Diese Sichtweise ignoriert ganz prinzipiell, dass rund ein Fünftel der israelischen Bevölkerung aus misrachischen – also arabischen beziehungsweise nicht-europäischen – Jüdinnen und Juden besteht; eine Ausblendung, die sich in das einseitige Bild einfügt. Yiftachel kritisiert die analytischen Schwachpunkte einer solchen „orientalistischen“ beziehungsweise „agambenistischen“ Sichtweise, welche jegliche Information ignoriert, die nicht in das Bild totaler Repression gegenüber Palästinenser_innen passt. So wird beispielsweise die Existenz palästinensischer Israelis, die ebenfalls rund ein Fünftel der israelischen Bevölkerung ausmachen, ausgeklammert und die Tatsache negiert, dass Israel einen Zufluchtsort für verfolgte Palästinenser_innen darstellt. Außerdem ignoriere die Darstellung lokalen antirassistischen Widerstand und nicht zuletzt die Dialektik von (beidseitiger) Gewalt und zeichne somit ein monolithisches, dämonisiertes Bild des israelischen Staates (vgl. Yiftachel 2008: 365ff). Dies ist einerseits eine Folge der kompletten Ignoranz gegenüber post-zionistischer „Hybridität“, die neben Checkpoints, rechten Siedlungsprojekten und Sperranlagen ebenfalls Teil israelischer Realität ist. Gemeinsam mit einem politischen Diskurs, in dem NS-Metaphern für israelische Politik herhalten, während Attentate von palästinensischer Seite ausschließlich als legitime antikoloniale Gewalt erscheinen, schafft dies – so Yiftachel – ein problematisches, systematisch verzerrtes Bild. An dieser Stelle sei noch kurz angemerkt, dass der Autor eine alles andere als apologetische Haltung gegenüber dem israelischen Staat einnimmt – vielmehr analysiert er diesen als „Siedler_innenkolonie“ und „ethnokratisches Regime“ und ist ein langjähriger Kritiker dessen „schleichender Apartheidpolitik“ (vgl. Yiftachel 2005, 2008). Allerdings – und das macht meines Erachtens den entscheidenden Unterschied aus – tut er dies analytisch sowie unter Einbezug historischer Fakten und nicht aus einer polemischen Perspektive, wie die hier kritisierte. Infolgedessen fokussiert er in seiner Arbeit auch nicht ausschließlich auf Israel, sondern diskutiert die israelische Politik komparativ, etwa im Abgleich mit anderen ethnokratischen Regimen wie Serbien, Sri Lanka oder dem Sudan (vgl. Yiftachel 2008: 367). Das hier kritisierte „orientalistische“ beziehungsweise monolithische Zerrbild zieht sich auch durch unzählige anti-israelische Divestment- oder Boykott-Aufrufe und Veranstaltungen wie exemplarisch am – von Mignolo ebenfalls unterstützten – Aufruf „Boycott Israel? Amitav Ghosh & the Dan David Prize“[10] aus dem Jahr 2010 nachvollzogen werden kann. Als Teil der US Campaign for the Academic and Cultural Boycott of Israel reiht sich dieser Aufruf in die seit 2005 transnational organisierten BDS-Aktivitäten ein. Wie in vielen anderen Boykottaufrufen steht auch hier das oben beschriebene (neo-)koloniale Framing des Nahostkonfliktes und des  israelischen Staates im Mittelpunkt der Kritik und die Boykott-Bereitschaft wird so zur Voraussetzung für eine linke, progressive Positionierung. Abgesehen von Fußnoten und Nebensätzen, die diese kritische politische Position in Bezug auf den israelischen Staat reflektieren, findet sich in Mignolos Texten sonst allerdings recht wenig Dezidiertes zum Thema Israel – was seine polemische Conclusio in „Dispensable and Bare Lives“ allerdings umso befremdlicher erscheinen lässt. Sehr explizit auf den israelischen Staat fokussiert hingegen der Beitrag von Ramón Grosfoguel im selben Band, weshalb ich im Folgenden auch stärker auf seinen Text eingehe.
Grosfoguels grundsätzliches Argument in seinem Text „Human Rights and Anti-Semitism after Gaza“ ist jenes, dass die israelische militärische Intervention im Gaza-Streifen im Dezember 2008 das symbolische Ende des hegemonialen (westlichen beziehungsweise euro-amerikanischen) Menschenrechts-Regimes darstelle, dessen neo-koloniale Funktion entlarvt worden sei. Erstens sei die israelische Militärintervention in Gaza „the most visible example of the colonial consequences of the ´War against Terrorism´ used today as the main mechanism of state terrorism around the world to fight liberation movements“ (Grosfoguel 2009: 91, meine Hervorhebung); damit sei sie also als Brennpunkt im globalen „Krieg gegen den Terror“ zu verstehen. Zweitens zeigt sich für Grosfoguel im Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der Eskalation des Gaza-Konfliktes, dass es sich bei dieser um ein imperialistisches, US-dominiertes Menschenrechtsregime handle, wodurch die Frage nach „universellen Menschenrechten“ neu gestellt werden müsse (ebd. 91f). In beiden Schlussfolgerungen fungiert der israelische Staat diskursiv also als „Brennpunkt des Weltgeschehens“ und insofern ist Gaza für Grosfoguel auch der logische historische Ausgangspunkt für eine radikale – und globale – Auseinandersetzung mit Neo-Kolonialismus und Neo-Imperialismus. Beide Schlussfolgerungen bedienen, so mein erster Kritikpunkt, strukturell antisemitische Allmachts-Deutungsmuster.
Weiters postuliert Grosfoguel in seiner Kritik, dass Zionismus (und zwar jede Form) nach der Intervention in Gaza endgültig als „racist, apartheid, settler colonialist project resorting to ethnic cleansing and Nazi-like atrocities” (ebd.: 92, meine Hervorhebung) demaskiert sei. Diese Polemik verschweigt wiederum das weite, von links bis rechts reichende politische Spektrum unterschiedlicher Zionismen sowie deren historische Veränderung nach der israelischen Staatsgründung (vgl. Yaʿakovi 2004; Zuckermann 2009). Der marxistische israelische Soziologe Moshe Zuckermann beispielsweise formuliert eine klare Kritik an den ideologischen Elementen des staatstragenden Zionismus und sieht in der Besatzungspolitik ab 1967 die rechte Wende des zionistischen Projektes. Dabei negiert er allerdings weder die Bandbreite und die emanzipatorischen Elemente zionistischer Ideen noch deren Funktion als jüdische Befreiungsbewegung; er selbst bezeichnet sich daher auch nicht als Anti-Zionist, der das politische Projekt a priori ablehnt, sondern vielmehr als Nicht-Zionist, der dessen antiemanzipatorische Wende kritisiert. Innerisraelische linke Kritik zielt laut Zuckermann auf eine Verbesserung der politischen Situation ab und niemals darauf, den Staat als Ganzes in Frage zu stellen oder gar abzuschaffen. Insofern beurteilt der Autor auch Diskussionen über das „Existenzrecht“ Israels als uninformierte und daher unzulässige Polemik – und dies gilt noch einmal mehr, wenn solche Debatten in postnazistischen Täter_innen-Kontexten wie Deutschland oder Österreich geführt werden (vgl. Zuckermann 2003: 15/42f). Daher soll an dieser Stelle auch noch einmal explizit auf die teilweise eklatante Geschichtsvergessenheit und damit zusammenhängende problematische Doppelstandards bei der Bewertung des kollektiven Wunsches nach nationaler Selbstbestimmung hingewiesen werden.  So entstand der Zionismus im ausgehenden 19. Jahrhundert in einer Situation einer radikalisierenden antisemitischen Diskriminierung und Ausgrenzung und diese Geschichte kann nicht ausgeblendet werden. Denn, um es mit dem Konfliktforscher Herbert Kelman auszudrücken: „(…) unter allen nationalen Befreiungsbewegungen die jüdische nationale Befreiungsbewegung als von Natur aus rassistisch zu bezeichnen, erscheint […] illegitim und tatsächlich selbst rassistisch – oder, in anderen Worten, antisemitisch“ (Kelman 2008: 247).[11]
Im Anschluss an die einseitige Darstellung von Zionismus als rassistische Staatsideologie fährt Grosfoguel mit einer dramatisch verkürzten, weil wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem NS völlig außer Acht lassenden und daher ideologisch anstatt analytisch argumentierenden, Diskussion fort, inwieweit „Nazismus“ („Hitlerism“ i.O., eigene Übersetzung) der adäquate Ausdruck für die israelische Besatzungspolitik sei. Dabei kommt er zu folgendem Schluss: „Gaza is today the equivalent continuity of the Warsaw ghetto  (ebd.: 93, meine Hervorhebung). Nachdem sich der israelische Staat allerdings zu keinem Zeitpunkt die Auslöschung der Palästinenser_innen zum Ziel setzte, ist diese Gleichsetzung eine unhaltbare Relativierung der Shoah. Zudem fügt sich Grosfoguel mit seiner „Analyse“ nahtlos in eine Dämonisierungslogik in puncto Israel ein, die sich global in unterschiedlichsten linken Kontexten manifestiert und beispielsweise von Nora Sternfeld in Bezug auf die europäische globalisierungskritische Bewegung problematisiert wurde (vgl. Sternfeld 2006).
Abgesehen von der notwendigen Kritik derartiger Analogien, müsste einer solcherart relativierenden Polemik meines Erachtens mit informierten Analysen der Besonderheit des NS sowie mit einer theoretisch fundierten Auseinandersetzung mit Transformationen des Antisemitismus nach 1945 begegnet werden – eine Perspektive, die den hier kritisierten dekolonialen Ansätzen fehlt. Konsequenterweise schafft Grosfoguel in seiner Conclusio dann auch „Antisemitismus“ als analytische Bezeichnung für die spezifische Form der Rassifizierung von Jüdinnen und Juden gleich ganz ab, indem er erstens rundheraus behauptet Antisemitismus sei in jeder Hinsicht von antimuslimischem Rassismus abgelöst worden und letzteren zudem als „anti-Arab/Muslim anti-Semitism“ bezeichnet (Grosfoguel 2009: 96). Das gleichzeitige Gegeneinander-Ausspielen und analytische Verwischen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus ist eine in den hier rezipierten dekolonialen Debatten verbreitete Argumentationslinie, die an das diskursive Element der Allmachtphantasien anknüpft und dieses sozusagen umkehrt, indem behauptet wird, muslimische Kollektive hätten die Rolle des gleichzeitig globalen und inneren Feindes übernommen. Dadurch wird auf rhetorischer Ebene Antisemitismus negiert und die Negation mit dem aktuell virulenteren antimuslimischen Rassismus legitimiert. Dessen prinzipielle Virulenz soll hier auch nicht in Abrede gestellt werden, ebenso wenig wie die Tatsache, dass zumindest im europäischen hegemonialen Migrationsdiskurs Überschneidungen zwischen antisemitischen Deutungsmustern und der aktuellen „Angst vor schleichender Islamisierung“ sowie vor dem ständig wachsenden, in „parallelgesellschaftlichen Staaten im Staat“ wohnhaften „inneren (islamistischen) Feind“ bestehen. Allerdings bleibt, wie empirische Untersuchungen während der letzten Finanzkrise zeigen, der Topos der „Weltverschwörung“, also eines machtvollen, weltumspannenden Netzwerkes mit Vernichtungspotenzial, weiterhin ausschließlich jüdisch konnotiert (vgl. Stögner 2012). Eine politische Polemik wie die von Grosfoguel ist also insofern problematisch, als sie auf der Logik einer Opferkonkurrenz basiert und dadurch die notwendige analytische Differenzierung zwischen den beiden unterschiedlichen Rassifizierungsformen in Frage stellt.
Das Ignorieren beziehungsweise Negieren von aktuellem Antisemitismus ist meiner Ansicht nach symptomatisch für de- und postkoloniale politische Positionierungen, die ihre Analysen mit Kritik am israelischen Staat vermischen und diesen als „Täterstaat“ in Kompliz_innenschaft mit Kapital und neo-kolonialem Weltsystem betrachten. Denn nachdem dies – wenn auch auf unterschiedliche Weise – für alle Staaten (einschließlich der wenigen übriggebliebenen kommunistischen) gilt, möchte ich an dieser Stelle wieder auf die analytische Inkonsistenz hinweisen. Dabei sollen selbstverständlich nicht neokoloniale Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen globalem Süden und Norden negiert, sondern lediglich in Erinnerung gerufen werden, dass sich kein Staat außerhalb des neoliberalen kapitalistischen Weltsystems befindet und dessen nationale Eliten diesem insofern „komplizenhaft“ verbunden sind. Die hier kritisierte verabsolutierende Logik fußt daher meines Erachtens auf einer strukturell antisemitischen Personalisierung von Kapital. Diese funktioniert allerdings nicht in der altbekannten Form des „jüdischen Bankiers“ oder des „jüdischen Finanzkapitals“, sondern in der Figur der/des „Constantinian Jew“, die in Mignolos Polemik beispielsweise gleichermaßen für Israel stehen kann wie auch für ein imperialistisches, neo-koloniales Weltsystem. Diese Tendenz, Israel auf problematische Weise zum Dreh- und Angelpunkt für geopolitisches Weltgeschehen und die Position zu dem Staat damit zum linken Lackmustest zu stilisieren, ist allen Beiträgen des erwähnten Sammelbandes sowie auch aktuellen de- und postkolonialen Debatten gemeinsam. Ein derart einseitiges und uninformiertes Nahost-Expert_innentum sollte kritisch beleuchtet werden, weshalb ich im Folgenden mögliche Anschlussfelder für eine weitergehende Diskussion vorschlage.


4.  Is it or is it not? Abschließende Bemerkungen zu innerlinken Debatten um Antisemitismus

Abschließend beziehe ich die hier rezipierten dekolonialen Diskussionen zurück auf die eingangs erwähnten Wiener Debatten, wobei es mir auch darum geht, spezifische Dynamiken innerlinker Auseinandersetzungen um Antisemitismus im postnazistischen Raum zu skizzieren. Aufbauend auf eigenen Beobachtungen und Erfahrungen möchte ich „Dead Ends“ der Auseinandersetzung zur Diskussion stellen, um einen neuen Raum für Auseinandersetzungen zu eröffnen.
Angesichts des meiner Meinung nach symptomatischen sowie problematischen Fokus auf Israel rege ich zunächst prinzipiell an, den Schwerpunkt der Auseinandersetzung in zweierlei Hinsicht zu verschieben: Zum einen ginge es darum, danach zu fragen, wann und wieso Israel seinen aktuellen Symbolcharakter annimmt und zum „Brennpunkt“ von globalem Neo-Kolonialismus und Imperialismus wird. Zweitens wäre es angebracht, sich mit potenziell (und auch faktisch) antisemitischen Effekten einer solchen einseitigen Nahost-Expertise auseinander zu setzen. Dazu wäre eine weitere Auseinandersetzung mit den hier kritisierten analytischen Inkonsistenzen notwendig, wobei problematische Deutungsmuster mit dem Analyseinstrument „struktureller Antisemitismus“ herausgearbeitet werden könnten. In diesem Sinn soll mein Beitrag auch weitere Diskussionen, Widerspruch, etc. anstoßen, um eine differenzierte Debatte voranzutreiben.
In dem Zusammenhang finde ich es wichtig, sich zunächst in Erinnerung zu rufen, dass Auseinandersetzung über antisemitische Deutungsmuster in linken/linksradikalen Kontexten weder ein neues noch ein ausschließlich de- oder postkoloniales Phänomen sind. Vielmehr haben solche Debatten in postnazistischen linken Kontexten eine jahrzehntelange Geschichte und kulminierten sicherlich mit dem Entstehen der so genannten „antideutschen“ Kritikströmung und deren Kritik an antisemitischer antiimperialistischer Palästinasolidarität ab Beginn der 1990er Jahre. Der Ablauf solcher Auseinandersetzungen weist dabei meiner Beobachtung nach spezifische Dynamiken auf, die zu Frontstellungen und damit zu Dead Ends der Auseinandersetzung führen können. Prinzipiell entstehen diese innerhalb zweier Auseinandersetzungsfelder, von denen ich eines in Anlehnung an Messerschmidt (2008) als „Opfer- oder Betroffenheitskonkurrenzen“ bezeichnen würde und das zweite als Spannungsfeld rund um das Analyseinstrument „struktureller Antisemitismus“. Ich beende meinen Text mit einer kurzen Reflexion darüber, die weitere Diskussionen anregen soll.
„Opfer-“ oder „Betroffenheitskonkurrenzen“ treten meist im Überschneidungsfeld antirassistischer Kritik und Kritik am Antisemitismus auf und sind damit Teil politischer Auseinandersetzungen in einer postkolonialen und postnazistischen Migrationsgesellschaft. Sie manifestieren sich unterschiedlich, funktionieren jedoch prinzipiell so, dass Rassismus und Antisemitismus und damit das Ausmaß der jeweiligen Betroffenheit von der spezifischen Rassifizierung gegeneinander „aufgewogen“ werden. Das kann sich einerseits in erinnerungspolitischen Debatten äußern, in denen es darum geht, ob die Shoah oder der Kolonialismus das „schlimmere“ Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen sei, ob in diesem Zusammenhang die These der Besonderheit und Einzigartigkeit der Shoah haltbar sei oder eine rein eurozentristische Perspektive widerspiegeln würde; außerdem wird diskutiert, inwieweit die paradigmatische Erinnerungsfunktion der Shoah die kritische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus verhindern würde. In Migrationsdebatten äußert sich diese Konkurrenzlogik beispielsweise in Debatten über das Verhältnis von Antisemitismus und „Islamophobie“. Konkret wird darüber gestritten, ob Antisemitismus im letzten Jahrzehnt von antimuslimischem Rassismus abgelöst worden sei oder nicht. Mitunter geht es dabei auch um die Frage eines neuen, „islamisierten“ Antisemitismus und in diesem Zusammenhang darum, ob und inwieweit der Vorwurf des Antisemitismus von der postnazistischen Dominanzgesellschaft auf Minderheiten – in diesem konkreten Fall muslimische Minderheiten – ausgelagert würde. Die extremeren Ausformungen solcher Debatten laufen dabei darauf hinaus, Antisemitismus als Analysekonzept zu dekonstruieren – eine Position, die sich auch bei Ramón Grosfoguel findet. In der Gegenposition wird Rassismus gegen muslimische Personen bagatellisiert beziehungsweise zuweilen auch als inexistent, weil nicht auf biologistischen Rassekonstruktionen fußend, bezeichnet – diese Extremposition findet sich in einigen antideutschen politischen Kontexten. Beide Dynamiken folgen dabei der Logik eines Nullsummenspiels, nach der die eine Form der Rassifizierung vor der Konkurrenz der anderen „gerettet“ werden muss. Dies ist allerdings einer analytischen Diskussion über empirisch beobachtbare Überschneidungen sowie notwendige Differenzierungen zwischen den beiden Rassifizierungsformen einigermaßen abträglich. Krude wird es zudem dann, wenn sich die Nullsummenlogik mit Kritik am israelischen Staat vermischt und im Extremfall Analogien zwischen NS und dem israelischen Staat gezogen werden – auch dies kann bei Grosfoguel nachgelesen werden. All den Debatten liegt eine ähnliche Dynamik zugrunde, die dann entsteht, wenn antisemitische Äußerungen von einer selbst von Rassismus/Rassifizierung betroffenen Person artikuliert werden. Die beschriebene Nullsummenperspektive erschwert bis verunmöglicht in diesem Fall das Benennen von Antisemitismus als auch eine weitere Auseinandersetzung damit. Dies hängt mit der oben beschriebenen Dynamik zusammen, dass die Betroffenheit von Rassismus/Rassifizierung und Antisemitismus gegeneinander aufgewogen werden und letzterer angesichts des aktuellen Migrationsregimes als weniger schlimm beziehungsweise aktuell weniger virulent betrachtet wird und/oder korrespondenztheoretisch durch das neo-koloniale Framing des Nahostkonflikts „erklärt“ wird.
Das zweite Auseinandersetzungsfeld betrifft Debatten rund um das analytische Konzept „struktureller Antisemitismus“, das bei Weitem kein unumstrittenes ist. In linken/linksradikalen Kontexten wurde das Konzept hauptsächlich von antideutschen Aktivist_innen bekannt gemacht und wird daher auch stark mit diesem – politisch zum Großteil marxistisch-wertkritisch verorteten – Spektrum assoziiert. Bei Debatten über „strukturellen Antisemitismus“ beziehungsweise „verkürzte Kapitalismuskritik“ werden von deren Kritiker_innen mehrere Punkte bemängelt. Zum einen wird argumentiert, dass es sich bei der Wertkritik um eine ihrerseits verkürzte Marxrezeption handle, in der nur die ersten Kapitel von Marx´ Kapital Eingang fänden. Sehr kritische Positionen halten dieses Aufzeigen einer falschen, projektiven Kapitalismuskritik schlichtweg für eine unzutreffende Analyse und die Kritik an linkem Antisemitismus tendenziell für übertrieben und hysterisch. Ein Element der hier beschriebenen Auseinandersetzungen sind Diskussionen darüber, inwieweit die jeweils kritisierte politische Artikulation (sei es eine Aussage, eine Handlung, ein Flyer, etc.) tatsächlich antisemitisch – beziehungsweise umgekehrt formuliert – inwieweit die geäußerte Kritik daran übertrieben sei. Solche Argumentationsmuster finden sich auch in den aktuellen Wiener Debatten und Reaktionen auf den offenen Brief Eduard Freudmanns wieder. Während der analytische Beitrag Ivana Marjanovićs leider keine nennenswerte Reaktion hervorrief, wurden auf dem  Blog „Antisemitismus! Was tun?“ einige durchaus emotionale Kommentare zu Eduard Freudmanns Kritik an Walter Mignolo gepostet. Prinzipiell wird kritisiert, dass in der Intervention ein generelles Rezeptions-Verbot von Mignolo oder dekolonialen Positionen verlangt würde. In den Debatten dazu wird der Autor zudem als hysterischer Selbstdarsteller bezeichnet, der als „Superjew“ identitäre Politik ohne Argumente, dafür aber mit viel „Profilierungssucht“, betreibe und „mignolosche Dummheiten“ aufbausche.[12] Aufgrund der stark desavouierenden Rhetorik möchte ich daher zunächst einmal eine Prämisse in Erinnerung rufen, die für jede Kritik diskriminierender Rassifizierung gilt: Setzt sich eine davon betroffene Person dagegen zur Wehr, dann ist diese Intervention grundsätzlich ernst zu nehmen, da ein Herunterspielen der Kritik die Gewalt letztendlich perpetuiert! Darüber hinaus will ich mit meiner Analyse dekolonialer Debatten zu neuem Antisemitismus darauf hinweisen, dass Eduard Freudmann auch keineswegs ein paar einzelne „Dummheiten“ aufbauscht. Vielmehr handelt es sich um politische Artikulationen, die sich zum Teil antisemitischer Deutungsmuster bedienen und systematisch auftreten, wenn de- beziehungsweise postkoloniale Kritik am israelischen Staat und die Analyse aktueller Rassifizierungsformen zusammen fallen.
Das Analysekonzept „struktureller Antisemitismus“, verstanden als diskursanalytische Ressource zur Auseinandersetzung mit politischen Frames, ermöglicht es, solche „Dummheiten“ als sich wiederholende Deutungsmuster zu analysieren und ist somit ein wichtiges Instrument für innerlinke Selbstreflexion. Daher will ich abschließend kurz zur Diskussion stellen, warum dieses analytische Tool m.E. teilweise heftig umstritten ist. Zum einen ist prinzipiell davon auszugehen, dass das Benennen von Antisemitismus zu Abwehrreaktionen führt. Mich interessiert hier aber eine andere Dynamik, denn ein weiteres auslösendes Moment vieler Debatten ist meiner Beobachtung nach die Tatsache, dass das Konzept als Angriff auf kapitalismuskritische Positionen verstanden wird; eine Wahrnehmung, zu der nicht zuletzt der Name beiträgt. Die Bezeichnung „strukturell“ wird nämlich mitunter so verstanden, als analysiere Postone jede Form antikapitalistischer Kritik als antisemitisch, was nicht der Fall ist. Die Kritik kann dabei bis zu der politischen Einschätzung reichen, dass eine Anwendung des Konzeptes jede Kapitalismuskritik  verunmögliche, da auf einmal alles strukturell antisemitisch sei. Dieser Standpunkt hat insofern etwas für sich, als extreme antideutsche Positionen tatsächlich dazu tendieren, Antisemitismus so schnell zu orten, dass der analytische Wert des Konzeptes dabei Schaden nimmt – ganz zu schweigen von dem Schaden, den dies einer Kritik am kapitalistischen Weltsystem und dessen neokolonialen Strukturen zufügt. Solche Fehlrezeptionen ändern jedoch nichts an der wichtigen analytischen Perspektive auf antisemitische Deutungsmuster, die das Konzept eröffnen könnte, würde es nicht als Frontalangriff auf Kapitalismuskritik (miss-)verstanden und abgewehrt werden.
Sowohl die obige Diskussion problematischer dekolonialer Texte als auch die Illustration innerlinker Debatten verweisen meiner Meinung nach auf die Notwendigkeit einer analytischen Auseinandersetzung mit antisemitischen Elementen der de- und post-kolonialen linken Theoriebildung und politischen Praxis – dies allerdings aus einer solidarischen Perspektive. Dabei würde es darum gehen, „entfernte Verbindungen“, also historische Genealogien und Überschneidungen sowie das Ineinanderwirken und das Gegeneinander-Ausspielen unterschiedlicher Rassifizierungsformen zu untersuchen, ohne dabei in Betroffenheitskonkurrenzen zu verharren. Voraussetzung hierfür wäre meiner Meinung nach eine ausgeweitete Analyse von Antisemitismus in de- und postkolonialen Kontexten und in diesem Zusammenhang wäre es vor allem wichtig, eine analytische Auseinandersetzung mit der Spezifität des modernen (Vernichtungs-)Antisemitismus und dessen ideologischer Leitfunktion im NS anzuregen. Teil dieses Prozesses sollte zudem auch sein, das Konzept des strukturellen Antisemitismus als analytische Ressource zu begreifen, anstatt als Fundamentalkritik. So behaupte ich ja auch in meiner Kritik an keiner Stelle, das Projekt Modernität/Kolonialität, oder gar Weltsystem- und Dependenztheorie seien per se strukturell antisemitisch, sondern streiche vielmehr problematische Elemente der ersteren kritischen Perspektive heraus. Das gleiche trifft auch auf Eduard Freudmanns offenen Brief und Ivana Marjanovićs kritische Analyse zu – keine der beiden Interventionen muss als „Rezeptionsverbot“ gelesen werden und es stellt sich die Frage, warum diese Leshaltung zumindest in Bezug auf den offenen Brief so eindeutig eingenommen wurde. Denn meiner Ansicht nach soll sehr wohl kritisiert und diskutiert werden können, dass Antisemitismus als diskursive Ressource zur Welterklärung dient; im Falle des strukturellen Antisemitismus als Erklärung des ausbeuterischen und ungerechten kapitalistischen Systems. Insofern ist eine Diskussion darüber auch kein Angriff, sondern ein Beitrag zu antikapitalistischer linker Theorie und Praxis und sollte daher auch weiterhin geführt werden.





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[3] Ich beziehe mich hier in erster Linie auf Sebastian Garbes Diskussion der dekolonialen Perspektive als südamerikanische Variante postkolonialer Kritik und möchte ihm an dieser Stelle für seine umfassende Einführung danken, ohne die ich meine Kritik nicht aus einer (halbwegs) informierten, solidarischen Perspektive formulieren könnte.
[4] Moishe Postone beschäftigte sich aus wertkritischer Perspektive mit der Logik und Funktionalität des eliminatorischen Antisemitismus während des Nationalsozialismus. Im Fokus seines Interesses stand dabei die Funktionsweise von Antisemitismus als kultureller Code, der reaktionäre Gegenbewegungen zu  modernen Umwälzungen sowie zur Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems einte. Das Konzept verweist auf die spezifische Funktion von Antisemitismus als diskursive Ressource zur Welterklärung, in diesem konkreten Fall zur Erklärung des kapitalistischen Weltsystems. Anhand der Nazi-Ideologie erarbeitete Postone dabei die diskursiven Elemente dieser falschen, projektiven Kapitalismuskritik, in der warenvermittelte Herrschaftsverhältnisse zu personalisierten werden. Essentielle Elemente des strukturellen Antisemitismus sind einerseits die falsche Unterscheidung zwischen „produktivem“ Industrie- und „parasitärem“ Finanzkapital und die Gleichsetzung jüdischer Personen mit letzterem beziehungsweise mit dem Kapitalismus als Ganzes; ein weiteres Element ist die Konstruktion kapitalistischer Modernisierung und Entfremdung als jüdisches Projekt und damit in Zusammenhang der Topos einer jüdischen Weltverschwörung. Neu und spezifisch für post- beziehungsweise dekoloniale Debatten, ist die Gleichsetzung jüdischer Kollektive und des israelischen Staates mit einem als monolithisch konstruierten kolonialistisch-imperialistischen „Westen“, womit dem Analysetool „struktureller Antisemitismus“ meines Erachtens ein neues diskursives Element beigefügt werden kann.
Für eine empirische Darstellung strukturell antisemitischer Elemente des globalisierungskritischen linken Diskurses vgl. Sternfeld 2006.
[5] Vgl. hierzu ausführlicher die Antwort von Jens Kastner und Tom Waibel auf Eduard Freudmanns offenen Brief: http://argument-wasnun.blogspot.com/2012/05/replies-to-open-letter-antisemitism.html (7.7. 2012)
[6] Vgl. zum Beispiel: http://www.bdsmovement.net/; http://www.pacbi.org/; http://www.usacbi.org/; http://www.bds-info.ch/ (12.8. 2012)
[7] Als „Boomerang Effects“ bezeichnet Hannah Arendt in der englischen Ausgabe der „Origins of Totalitarianism“ die Rückspiegelung der burischen „Rassengesellschaft“ in Südafrika auf Europa. Mit diesem wurde ihrer Analyse nach das biologistische Konstrukt „Rasse“ als gesellschaftsorganisierendes übernommen und damit eines der Elemente des NS (re-)importiert. In der deutschen Ausgabe taucht der Begriff in diesem Zusammenhang nicht auf; hier weist Arendt darauf hin, dass die südafrikanischen „Erfahrungen“ auf Europa „zurückschlugen“. In der Einleitung zum zweiten Teil ihres Buches, in dem sie sich mit dem Imperialismus beschäftigt, spricht sie dann  dezidiert vom potenziellen „Bumerangeffekt“ einer fortgesetzten  imperialistischen „Herrschaft über Untertanenrassen“ (vgl. Arendt 1986 [orig.: 1955]: 442; 275f).
[8] Mignolo übernimmt hier den Ausdruck „Constantinian Jewish Establishment“ von dem US-amerikanischen jüdischen Befreiungstheologen Marc Ellis, der damit rechts-liberale bis rechts-konservative Gruppen beschreibt. Der Terminus wird von Mignolo falsch rezipiert und als „Constantine Jewness“ wiedergegeben. Neben der falschen Rezeption des Adjektivs soll hier vor allem darauf hingewiesen werden, dass „Jewness“ ein pejorativer Ausdruck ist, der als „Jüdischkeit“ übersetzt werden könnte. „Jüdischkeit“ bezeichnet aus ressentimentgeladenen Zuschreibungen entstandene Selbstpositionierungen und dabei konkret die partielle Übernahme dominanzgesellschaftlicher rassifizierender Stereotype, die mitunter zur „Jüdischkeit“, also zu einer Karikatur des jüdischen Selbst gerinnen können. Neben „jüdischem Selbsthass“, also der totalen Übernahme von Stereotypen und darauffolgender Selbstablehnung und -abwertung ist die Ausbildung von „Jüdischkeit“ eine weitere mögliche psychologische Reaktionsform auf alltägliche antisemitische Anfeindung (vgl. Arendt 1986: 165/169).
[9] Für eine explizit politisch argumentierende Auseinandersetzung mit innerjüdischen Standpunkten in US-amerikanischen Debatten um Israel, Antizionismus und Antisemitismus vgl. Butler 2004.
[10] Vgl. “Boycott Israel? Amitav Ghosh & the Dan David Prize”: http://www.usacbi.org/2010/05/boycott-israel-amitav-ghosh-the-dan-david-prize/ (15.6. 2012).  Für eine ausführlichere Darstellung unterschiedlicher  Boykottaktivitäten vgl. auch “Academic and Culture Boycott of Israel: Colonialism, Orientalism, and Eurocentrism”: http://www.youtube.com/watch?v=Grqga4QMuOU  (15.6.2012)
[11] Vgl. in diesem Zusammenhang auch Norman Finkelsteins Kritik an derartigen Doppelstandards bezüglich nationaler Selbstbestimmung sowie an den daraus folgenden problematischen Elementen aktueller BDS-Kampagnen: http://www.youtube.com/watch?v=M7RWb24VKhA&NR=1&feature=endscreen (12.8. 2012)