Is it? Or is it not? Beitrag zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der dekolonialen
Theorie
1. Einleitung und politischer Anspruch:
Dieser Text bezieht sich
auf aktuelle Debatten in der Wiener Linken, er ist als Reaktion auf Konflikte
im Umfeld des „Europäischen Instituts für Progressive Kulturpolitik“ (EIPCP) zu
lesen und soll einen Beitrag zur differenzierten
Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der dekolonialen Theorie
sowie speziell im Umfeld des „Projektes Modernität/Kolonialität“ leisten. Die
Diskussion in Wien entzündete sich im Jahr 2011 an der Wiener Akademie der
Bildenden Künste an Kontroversen über antisemitische Deutungsmuster und
problematische Israelpositionierungen in Texten des dekolonialen Theoretikers
Walter Mignolo und wurde im April 2012 mit einer Intervention von Eduard
Freudmann an eine breitere Öffentlichkeit getragen[1]. Mein
Beitrag knüpft an diese Intervention und speziell an Ivana Marjanovićs Analyse
des umstrittenen Textes „Dispensable and
Bare Lives. Coloniality and the Hidden Political/Economic Agenda of Modernity“[2] an
und beschäftigt sich ebenfalls mit den strittigen Teilaspekten der dekolonialen
Kritik. Der besagte Text ist Teil einer Spezialausgabe des dekolonialen
Internetjournals „Human Architecture“, die sich aus den Beiträgen der 2007
durchgeführten Konferenz „The post
September 11 New Ethnic/Racial Configurations in Europe and the United States:
The Case of Anti-Semitism” zusammensetzt. Ich analysiere vier Beiträge dieser
Ausgabe und fokussiere auf deren spezifische Auseinandersetzung mit
Antisemitismus sowie auf Israelpositionierungen (vgl. Ellis 2009;
Grosfoguel 2009, Mignolo 2009a,
Slabodsky 2009). Vor allem gehe ich dabei kritisch auf Texte von Walter Mignolo
und Ramón Grosfoguel ein und setze diesen Fokus, da sich bei beiden Theoretikern
meines Erachtens problematische Verquickungen der Analyse von
Modernität/Kolonialität mit der Diskussion von globalem Antisemitismus sowie
der geo-politischen – und dabei vor allem neo-kolonialen – Bedeutung des
israelischen Staates finden. Die von mir kritisierten verkürzten Positionen der
beiden Autoren betrachte ich dabei als spezifisch für de- und auch
post-koloniale linke Debatten im Kontext aktueller israelkritischer Boykott-
und Desinvestitions-Kampagnen, bei denen dem Staat Israel mitunter die Rolle der kolonialen Supermacht mit
Bedrohungspotenzial für den Weltfrieden zugeschrieben wird.
Es soll bei meiner
kritischen Auseinandersetzung nicht darum gehen, dekoloniale Ansätze und
Standpunkte zu desavouieren oder hier das falsche Bild zu transportieren, der
gesamte theoretische Ansatz würde auf Israel und damit verbundene Diskussionen um
Counter-Terrorismus, antimuslimischen Rassismus sowie neuen Antisemitismus
fokussieren. Viel prominenter als im südamerikanischen Kontext, in dem die
dekoloniale Perspektive entwickelt wurde, sind solche Debatten im
Überschneidungsfeld de- beziehungsweise post-kolonialer Kritik und politischer
Praxis im angloamerikanischen und europäischen Raum. Um also einer anglo-
beziehungsweise eurozentristischen Lesart meines Textes entgegen zu steuern,
beginne ich mit einem kurzen Abriss dekolonialer Auseinandersetzungsfelder und
deren politischer Impulse für linke Gesellschaftskritik.[3] Spezielles
Augenmerk liegt dabei auf dem Umfeld des „Projektes Modernität/Kolonialität“,
das sich mit der Ko-Konstituierung von Moderne und Kolonialität
auseinandersetzt. Im Anschluss diskutiere ich die meiner Ansicht nach problematischen
Elemente aktueller dekolonialer Debatten um globalen Antisemitismus,
antimuslimischen Rassismus und Israel und schlage Moishe Postones (1988) Konzept
des „strukturellen Antisemitismus“[4] als
Analysetool vor, um diese zu erfassen. In meiner Diskussion gehe ich konkret
auf die historisch-genealogische Auseinandersetzung mit der antisemitischen Rassifizierung
von Jüdinnen und Juden sowie auf die Rolle des israelischen Staates in den
Analysen ein. Als symptomatisch betrachte ich dabei das Negieren von aktuellem
Antisemitismus und die Konstruktion von Israel als „Täterstaat“ und „Speerspitze“
des kapitalistischen neo-kolonialen Weltsystems. Abschließend spanne ich den
Bogen zurück zu den aktuellen Auseinandersetzungen in Wien und schlage
potenzielle Themenfelder für weiterführende Debatten vor. In diesem Kontext
möchte ich mittels einer kurzen Reflexion über spezifische Dynamiken
postnazistischer innerlinker Debatten um Antisemitismus eine weitergehende Diskussion
über auslösende Momente und „Dead-Ends“ der Auseinandersetzung anregen.
2. Das Projekt
Modernität/Kolonialität als politisches Theorieprojekt und antirassistische
Epistemologie der Befreiung
Das „Projekt
Modernität/Kolonialität“ ist ein dem postkolonialen Theoriespektrum sowie den
Cultural Studies verwandtes politisches Theorieprojekt, das durch den Einbezug
dependenz- und weltsystemtheoretischer Ansätze an einer materialistisch (und
lokal) verankerten Kritik und Rekonzeptualisierung euro- und anglozentristischer
Elemente der Moderne arbeitet. Spezieller Fokus liegt dabei auf kolonialen
Rassismen und deren aktueller Wirkmächtigkeit oder – anders ausgedrückt – deren
Fortleben im postkolonialen Zeitalter. Drei zentrale Theoretiker des Ansatzes sind
Enrique Dussel, Aníbal Quijano und Walter Mignolo (vgl. Garbe 2012: 97). Durch
den Einfluss des ersteren ist dekoloniale Kritik von der südamerikanischen
Befreiungsphilosophie geprägt und beschäftigt sich dementsprechend auch mit
Möglichkeiten der Selbst-De-Kolonisierung im neokolonialen (sprich
globalisierten und neoliberalen) Weltsystem. Daher versteht sich das Projekt
auch nicht als rein akademische Veranstaltung, sondern sucht die Verbindung zu
sozialen Bewegungen sowie die Auseinandersetzung mit aktivistischer,
nicht-akademischer Wissensproduktion.
Ein starker Fokus liegt auf der Kritik der
(europäischen) Moderne und deren historischem Zusammenwirken mit Imperialismus,
Kolonialismus und modernen biologistischen Rassismen. Modernität/Kolonialität
wird dabei als ein globales und auf Machtasymmetrien basierendes Projekt analysiert, in dem Eurozentrismus als
„moderne/koloniale Wissens- Repräsentations- und Reproduktionsform“ (ebd.: 90)
fungiert. Kurz zusammengefasst meint Dekolonialität also das Aufzeigen und die
Analyse von epistemischer Gewalt und deren materieller Einbettung in der
kolonialen Moderne sowie die Erarbeitung eines „epistemischen Ungehorsams“ zu
deren Überwindung (vgl. Mignolo 2011). Diese politische Aufforderung zur
kontinuierlichen Auseinandersetzung mit Eurozentrismus und epistemischer Gewalt
sowie das Zusammendenken von Ausbeutung, materieller Ungleichheit und deren
ideologischem Überbau, eröffnet meiner Meinung nach wichtige Perspektiven für
linke Politik, welche eine Reflexion über die eigene Verstrickung
in post-koloniale Rassismen in einem postnazistischen Raum ermöglichen.
Dekoloniale Ansätze arbeiten an einer standpunkttheoretischen „Entkoppelung“ [„de-linking“] von westlichen, universalistischen
Erzählungen und an der Entwicklung einer „Epistemologie der Grenze“ [„border
thinking“], die von den
Erfahrungen rassifizierter Subjekte ausgeht: „Die Epistemologie der Grenze geht
mit der Dekolonialität Hand in Hand, denn die Dekolonialität konzentriert sich
darauf, die Bedingungen der Auseinandersetzung zu verändern, und nicht nur
deren Inhalt. (…) Man muss sich auf das Reservoir jener Lebensformen und
Denkweisen hin bewegen, die seit der Renaissance von der christlichen Theologie
ausgeschlossen wurden und von der säkularen Philosophie und den Wissenschaften
ausgeschlossen blieben“ (ebd.: 2). Wichtiger Teil des politischen Projektes –
und zentral in den Arbeiten von Walter Mignolo – ist daher die Dekonstruktion
moderner, kolonial-rassistischer und okzidentalistischer Epistemologie(n) und
die Arbeit an einer nicht-eurozentristischen und rassistischen
epistemologischen Perspektive; dies umfasst die Entwicklung einer
„Grammatik der Dekolonialität“ ebenso wie die
Auseinandersetzung mit „postokzidentaler Kritik“ (vgl. Mignolo 2002). Denn, so Mignolo, „Dekolonialität [kann] weder
Kartesianisch noch Marxistisch sein. (…) Der Ausgangspunkt der Dekolonialität
in der dritten Welt verknüpft sich mit dem ´migrantischen Bewusstsein´ in
Westeuropa und den USA“, und findet sich „in den Verbreitungsrouten des dekolonialen
Denkens und des Grenzdenkens“ (Mignolo 2011: 2).
Prinzipiell erteilt die dekoloniale
Perspektive in Europa entwickelten gesellschaftskritischen Ansätzen und Konzepten
jedoch keine generelle Absage; Dussel und Quijano beziehen sich beispielsweise
dezidiert auf marxistische Ansätze wie Dependenz- oder Weltsystemtheorie. Diese
werden aber bei Quijano immer lokalisiert, also an der lokalen (peruanischen)
empirischen Realität geprüft (vgl. Garbe 2012: 112). Allerdings lassen sich
bezüglich der Rezeption beziehungsweise Abgrenzung von europäischen oder
amerikanischen Theoriekonzepten unterschiedliche Zugänge ausmachen. Mignolo
stellt mit seiner Arbeit an einer „postokzidentalen“ Epistemologie eine eher
euro- beziehungsweise anglo-skeptische Position innerhalb des
Rezeptionsspektrums dar, die zuweilen auch ins Dichotomische kippt.
Beispielhaft hierfür ist die Auseinandersetzung des Autors mit dem Moment des
Widerstandes, also der De-Kolonisierung (der eigenen Person, der Wissensproduktion,
der gesellschaftlichen Verhältnisse, etc.), die sich, der standpunkttheoretischen
Perspektive folgend, nicht zuletzt aus der individuellen wie kollektiven (und
kollektivierten) Erfahrung des Rassisifizert-Werdens speist. In diesem Zusammenhang
entwickelt Mignolo die interessante These, dass richtungsweisende europäische
Gesellschaftkritik und Emanzipationsbestrebungen im 19. und beginnenden 20.
Jahrhundert aus jüdischen Subjektpositionen entstanden. Konkret bezieht er sich
dabei auf Karl Marx und Sigmund Freud und sieht deren Gesellschaftskritik sowie
speziell die theoretische Arbeit an universalistischen Emanzipationskonzepten
darin begründet, dass beide mit antisemitischer Diskriminierung oder in
Mignolos Worten mit „rassifizierenden Differentialen“ konfrontiert waren. Die
daraus entwickelte, anti-partikularistische Gesellschaftsanalyse und -kritik,
bezeichnet er daher als „innere (inner-europäische, J.E.) De-Kolonisierung“.
Allerdings endet seine Argumentation apodiktisch und schließt aus, dass eine
Übertragung marxistischer Konzepte auf Kämpfe der De-Kolonisierung im globalen
Süden möglich sei. Dies sei zuvorderst der Tatsache geschuldet, dass die
eurozentristische Perspektive nicht überwunden werden könne und es daher
unmöglich sei, die Parallelen und Differenzen von innereuropäischer
Ungleichheit und kolonialer Unterdrückung in den Blick zu nehmen (vgl. Mignolo
2007b: 486). Damit lässt er allerdings frühe Auseinandersetzungen mit
Kapitalakkumulation, Imperialismus und Kolonialismus, wie sie beispielsweise
Rosa Luxemburg in ihrer Imperialismustheorie schon zu Beginn des 20.
Jahrhunderts formulierte, unbeachtet. Auch Hannah Arendts Analyse des
Zusammenhangs von Imperialismus, Antisemitismus und Rassismus, die ihrerseits
auf Luxemburg aufbaut, wird ausgeklammert (vgl. Arendt 1986). Zudem greift die
Kritik zu kurz, da sie den Einfluss von „Travelling Theories“ (Said 1983) und
damit die globale Verwobenheit von Wissensproduktionen negiert. Die Tendenz, bei der notwendigen
Kritik an eurozentristischem Rassismus dichotomisierend und einem manichäischen
Weltbild folgend vorzugehen, wurde auch im Zuge der aktuellen Wiener
Auseinandersetzung kritisch diskutiert. So merken Jens Kastner und Tom Waibel
an, dass Mignolo „westliches Wissen“ und „westliche Gesellschaftskritik“
mitunter als abzulehnenden monolithischen Block behandelt, ohne dabei zu
reflektieren, dass gleichzeitig ein starker Bezug auf die kritisierten
Wissensbestände – wie beispielsweise den Marxismus – besteht. In diesem
Zusammenhang weisen die Autoren zudem auf antisemitische Elemente von Mignolos
Israel-Kritik hin, etwa wenn er jüdischen Kollektiven eine „Kompliz_innenschaft“
mit der „aktuellen Machtstruktur“ attestiert.[5]
Im folgenden
inhaltlichen Hauptteil beschäftige ich mich mit diesem speziellen Aspekt eines
dichotomisierenden Zugangs zur gesellschaftskritischen Wissensproduktion und illustriere dabei zwei problematische Argumentationsstränge in den Texten von Walter
Mignolo und Ramón Grosfoguel. Zum einen interessiert mich die
historisch-genealogische Diskussion der spezifischen Rassifizierung von
Jüdinnen und Juden, zum anderen die geopolitische Rolle, welche dem
israelischen Staat zugeschrieben wird. Dabei zeige ich, wie die Analyse beider
Autoren in Polemik kippt, sobald sie sich israelkritisch positionieren. Im Zuge
dessen greifen beide auf Deutungsmuster zurück, die sich meiner Beobachtung
nach in verschiedensten anti-, de- oder postkolonialen sowie auch in antiimperialistischen
politischen Positionierungen wiederfinden und strukturell antisemitische
Elemente beinhalten, bei denen ein monolithisch konstruierter,
hegemonial-rassistischer „Westen“ mit jüdischen Kollektiven und Positionen
sowie mit dem Staat Israel amalgamiert.
3. Dekoloniale Debatten um
Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus und Israel nach dem elften September
2001
Als Reaktion auf den von der
Bush-Administration nach den Anschlägen auf das World Trade Center
proklamierten „Krieg gegen den Terror“, geht es im weiteren personellen Umfeld
des Projektes Modernität/Kolonialität in den letzten Jahren verstärkt um die
kritische Auseinandersetzung mit
neo-kolonialer Geopolitik. Ab 2006 wurden dazu im Umfeld des Editorial
Boards des dekolonialen Internetjournals „Human
Architecture“ mehrere internationale Konferenzen organisiert; zwei fokussieren
auf anti-muslimischen Rassismus und eine auf globalen „neuen“ Antisemitismus
nach 9/11. Die Beiträge dieser 2007 durchgeführten Konferenz „The post September 11 New Ethnic/Racial
Configurations in Europe and the United States: The Case of Anti-Semitism”
erschienen gesammelt in der siebten Ausgabe des Journals (vgl. Tamdgidi et al.
2009) und stellen die Texte dar, auf ich mich in meiner Auseinandersetzung
hauptsächlich beziehe (vgl. Ellis 2009; Grosfoguel 2009, Mignolo 2009a, Slabodsky 2009).
Vorab ist zunächst
festzuhalten, dass sich in den hier kritisch diskutierten Texten durchaus wichtige
theoretisch-politische Analyseperspektiven für die Auseinandersetzung mit dem
Zusammenhang von biologistischem Rassismus/Rassifizierung und
Modernität/Kolonialität finden. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wird das
Verhältnis von kolonialem Rassismus und Antisemitismus aus einer
historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive betrachtet und die Genealogien
der jeweiligen Rassifizierungsformen nachgezeichnet. Darüber hinaus werden die
Transformationen von antimuslimischem Rassismus und neuen Antisemitismus im
Lichte der diskursiven Feind-Verschiebungen nach 9/11 diskutiert. Dieser
doppelte Auseinandersetzungsfokus muss dabei als Reaktion auf den hegemonial
werdenden anti-muslimischen Rassismus sowie als Beitrag zu aktuellen Diskussionen um Israel und Divestment-
und Boykott-Kampagnen in postkolonialen politischen Kontexten gesehen werden.
Spätestens ab dem Libanon-Krieg 2006 gewinnen diese Kampagnen in europäischen
und amerikanischen linken/linksradikalen Kontexten an Relevanz, wobei stark auf
die anti/kolonialen Elemente des Nahost-Konflikts fokussiert wird.[6]
Nachdem sich alle von mir rezipierten Texte politisch (und dezidiert
israelkritisch) positionieren, vermischen sich darin zwei Ebenen: Grundsätzlich
wird die Herausbildung des modernen biologistischen Rassismus und
Antisemitismus aus einer dekolonialen Perspektive diskutiert, die euro- und
anglo-zentristische Wissensproduktion durchkreuzt und durch die historische
Schwerpunktsetzung wichtige Beiträge zu einer genealogischen Betrachtung unterschiedlicher
Rassifizierungsmechanismen leistet. Insbesondere Mignolos Beitrag „Dispensable
and Bare Lives“ eröffnet eine interessante Perspektive, indem er kolonialen
Rassismus und Antisemitismus als ideologischen Überbau der
kapitalistisch-imperialistischen europäischen Moderne analysiert. Allerdings,
und dies ist dem speziellen politischen Fokus der Beiträge geschuldet,
vermischen sich in den Texten epistemologisch-theoretische Überlegungen mit
israelkritischen Positionierungen sowie mit Analysen der aktuellen politischen
Lage in Nahost. Im Zuge dieses oft nicht explizierten Themenswitchings wird, so
meine Kritik, polemisch anstatt analytisch argumentiert. Dabei werden (nett
ausgedrückt) unzulässige Analogien – wie beispielsweise zwischen NS und dem israelischen
Staat – bemüht sowie historisch gewachsene antisemitische Deutungsmuster auf
aktuelle Realpolitik übertragen. Derartige diskursive Interventionen sind
meines Erachtens Anknüpfungspunkte für strukturell antisemitische
Argumentationslinien und dass, wann und wie das passiert, will ich im Folgenden
anhand einer eingehenderen Darstellung der rezipierten Texte aus der genannten
Spezialausgabe zur Diskussion stellen.
Ich beginne mit einer
Kritik an Walter Mignolo und illustriere seine historisch-genealogische
Diskussion der diskursiven Figur „Jüdin/Jude“ und deren Rolle im Prozess der
Modernisierung / Kolonisierung sowie der damit verbundenen Herausbildung eines
modernen biologistischen Rassismus. Diese setze ich einen kritischen Abgleich
mit meiner Meinung nach differenzierter argumentierenden Beiträgen, wie zum
Beispiel den von Santiago Slabodsky im gleichen Band. Dadurch will ich aufzeigen,
dass Elemente von Mignolos Diskussion insofern problematisch sind, als sie
nicht historisch-analytisch, sondern unter Rückgriff auf antisemitische
Deutungsmuster argumentieren (vgl. hierzu auch die Kritik von Ivana Marjanović
2012).
3.1. Modernität / Kolonialität: Genealogien der Rassifizierung,
„Constantinian Jews“ und Grenzen der Analyse
Prinzipiell beschäftigt
sich Mignolo mit Genealogien der Rassifizierung innerhalb dessen, was er als
„koloniale Matrix“ bezeichnet und analysiert den Übergang von religiösem
Othering zu biologistischen Rassifizierungsprozessen ab dem ausgehenden 15.
Jahrhundert. Diesen diskursiven Prozess setzt er dabei in Relation zu
ökonomischen Veränderungen, namentlich zur beginnenden Herausbildung des
imperialistisch-kolonialistischen Weltsystems. Eine ausführliche Diskussion des
Textes findet sich in Ivana Marjanovićs Beitrag, weshalb ich nur kurz dessen
Hauptargumente zusammenfasse und danach stärker auf andere Beiträge der
Spezialausgabe eingehe, um meiner Ansicht nach falsch übernommene Argumente
kritisch zu beleuchten.
Bei seiner Illustration der
unterschiedlichen Rassifizierungsgenealogien unterscheidet Mignolo im Anschluss
an Hannah Arendt zwischen „überflüssigem“ und „nacktem“ Leben, wobei ersteres
ein Produkt des ideologischen Überbaus zur ökonomischen Ausbeutung rassifizierter
kolonisierter/versklavter Kollektive bezeichnet und zweiteres die Konstruktion
des europäischen jüdischen Kollektivs als „prototypische Andere“ im Zuge
moderner Nationenbildung (Mignolo 2009: 76f). Mit Bezug auf Aimé Césaires „Choc
en Retour“ verknüpft er schließlich die Herausbildung der „kolonialen Matrix“
mit der Shoah, indem er NS und eliminatorischen Antisemitismus als
Rückspiegelung kolonialer Gewalt auf Europa betrachtet. Diese Rückspiegelung
nennt er „Bumerang Effekt“, lässt dabei allerdings unter den Tisch fallen, dass
sich diese Bezeichnung nicht bei Césaire, sondern in genau diesem Wortlaut bei
Hannah Arendts Analyse der Ursprünge von Antisemitismus, Imperialismus und
totaler Herrschaft findet (ebd.: 81; vgl. bei Arendt 1951: 206, 223)[7].
Die Rassifizierung unterschiedlicher
Kollektive in der kolonialen Moderne zu analysieren und damit in einen
historisch-ökonomischen Kontext zu setzen, eröffnet ganz prinzipiell eine
wichtige politische Perspektive. Gerade im vergleichenden Nachzeichnen des
diskursiven Shifts von religiösem Othering zu einem biologistisch rassifizierenden
im Kontext der europäischen Expansion und Kolonisierung, liegt ein Denkansatz,
der in politischen Auseinandersetzungen nicht fehlen darf, wenn die eigene
Verstrickung in post-koloniale Rassismen reflektiert werden soll. Allerdings
analysiert Mignolo in seiner Conclusio die jüdische Emanzipation im Europa des
18. und 19. Jahrhunderts, im Zuge derer eine säkulare jüdische Identität [„Secular Jewness“][sic!] entsteht, als historischen Schlusspunkt der Rassifizierung, da – so die
Argumentation – jüdische Kollektive in der Folge Teil des „weißen“ Kollektivs
wurden. Dabei ignoriert er jedoch die Zwangslogik antisemitischer Rassifizierung,
die einen nicht unwesentlichen Beitrag zur jüdischen Emanzipation leistete, da
diese auch als Projekt jüdischer Assimilation
zur Vermeidung anhaltender Diskriminierung verstanden werden muss (für eine
ausführliche historische Darstellung dieser Dynamik am Beispiel Deutschland vgl.
Volkov 2000). Und auch die differentielle Inklusion im Zuge der jüdischen
Emanzipation und Assimilation ist historisch betrachtet eine begrenzte und von
kurzer Dauer, oder, wie Hannah Arendt bemerkt, „wenn Assimilation die Aufnahme
von Juden in die nichtjüdische Gesellschaft bedeuten soll, so hat es eine
Assimilation für die Massen selbst des emanzipierten Judentums nur sehr sporadisch
gegeben“ (Arendt 1986: 193). Spätestens mit der Radikalisierung des
Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert ist diese Phase endgültig vorbei
und die eliminatorische Wendung des antisemitischen Ressentiments kündigt sich an.
Mignolo allerdings setzt diese – bekanntlich vor der Shoah endende – Periode als den Beginn einer Distinktion
unterschiedlicher Rassifizierungsformen und den Ausgangspunkt der
„Kompliz_innenschaft“ zwischen jüdischem Kollektiv und westlichem Imperialismus
(Mignolo 2009: 86f). Die diskursive Entwicklung eines eliminatorischen
Antisemitismus sowie dessen Materialisierung im NS werden dann in der weiteren
Argumentation ausgespart. Insofern wird nicht nur die Auslöschung des
europäischen Judentums und die industriell organisierte Ermordung von 6
Millionen Menschen ausgeblendet, sondern auch deren ganz klar biologistisch-„rassen“basierte
Grundlage. Im Prinzip endet die Argumentationsline dann damit, dass der mit der
kolonialen Matrix verwobene Antisemitismus mit dem Aufgehen jüdischer Personen
in einem „weißen (westlichen, imperialistischen) Kollektiv“ gleichsam
überwunden und – so die Conclusio – gegenwärtiger Antisemitismus allein aus der
Kompliz_innenschaft zwischen „Secular“ beziehungsweise „Constantine Jewness“ [sic!][8] und Kapital, die in der israelischen
Staatsgründung 1948 kulminiert, zu erklären sei (ebd.: 87). Dies ist historisch
falsch und speziell vor dem Hintergrund von NS und Vernichtungsantisemitismus
eine problematische Behauptung. Allerdings fügt sich diese Betrachtung logisch
in die politische Programmatik des Beitrags ein und verweist auf deren
problematische Elemente. So ist die der Aussage zugrunde liegende analytische
Inkonsistenz – denn einleitend findet die Shoah ja durchaus Eingang in Mignolos
Argumentation, indem sie als „Choc en Retour“ der Kolonialverbrechen diskutiert
wird – meines Erachtens bedeutsam und eben symptomatisch für die von mir hier
kritisierten dekolonialen sowie auch für postkoloniale Israelpositionierungen:
Die eigene israelkritische politische Verortung wird dort auf tendenziöse Weise
mit der Analyse von Rassifizierungs-Genealogien verquickt und läuft implizit
auf ein Gegeneinander-Ausspielen von Antisemitismus und anderen Formen der Rassifizierung
hinaus. Im Abgleich mit zwei differenzierter argumentierenden Beiträgen aus der
gleichen Spezialausgabe von „Human Architecture“, möchte ich meine Kritik noch
genauer untermauern.
Eine andere
Argumentationslinie verfolgt zum Beispiel Santiago Slabodsky, der sich in
seinem Beitrag mit Transformationen des Antisemitismus in Relation zur
israelischen Politik auseinander setzt. Wie Mignolo analysiert Slabodsky die Rassifizierung
jüdischer Kollektive als modernes / koloniales Projekt, er betont dabei
allerdings auch aktuellen Antisemitismus, der, wie er kritisch anmerkt, von den
meisten anti-kolonialen israelkritischen politischen Positionen „in einem
Vakuum“ belassen – sprich ignoriert – würde (vgl. Slabodsky 2009: 40). Zudem
beschäftigt sich der Autor mit historischen Konjunkturen des Antisemitismus und
nimmt die sich über die Jahrhunderte verändernde „Rolle“ der diskursiven Figur
Jüdin/Jude in den Blick. Er illustriert, wie sich diese
im Kolonialkontext von den „rassifizierten Anderen“ zum Kollektiv „imperialer
Agent_innen“ wandelt und geht dabei auf ihre diskursive Funktion als Teil des
ideologischen Überbaus in einem kolonialen imperialistischen Weltsystem ein:
“Rephrasing this phenomenon [the “use” of “Jewishness”, J.E.] from the 16th to
the 20th centuries, the use of the Jew within
colonial discourses takes the following path: first, Jews are being
projected as the paradigm of universal
otherness to comprehend the foreign; second, certain groups are separated
from others in virtue of their “Judaism” in order to reflect an intermediary and advanced force of
imperialism” (ebd.: 45, meine Hervorhebung). Dieser diskursive Wandel, so Slabodsky weiter,
platzierte jüdische Kollektive in eine Art „Mittelposition“ zwischen Kolonisator_innen
und Kolonisierten, womit sie auch zu einer antikolonialen Projektionsfläche
werden konnten. Damit expliziert er aus historischer Perspektive einen der
fundamentalen Unterschiede zwischen der Funktionsweise von Antisemitismus und
kolonialem Rassismus: die Vorstellung einer abstrakten und allumfassenden
jüdischen Macht nämlich, die sich in diesem Fall als Vorstellung einer
„advanced force of imperialism“ manifestiert
– ein Topos, der sich in veränderter Form auch in aktuellen de- und post-kolonialen
Debatten um den israelischen Staat wiederfindet. So wird diese wichtige
Unterscheidung bei Mignolo nicht nur ignoriert, sondern vielmehr der genannte
Topos reproduziert. Unbeachtet bleibt bei ihm daher auch, dass der von
Slabodsky beschriebene Formwandel den Prozess der Rassifizierung jüdischer
Kollektive im Kolonialkontext selbst in keinster Weise aushebelt und dass ihm
zudem eine Logik des „Teilens und Herrschens“ zugrunde liegt, die wiederum
einen Beitrag zum antisemitischen Ressentiment leisten kann. „Teilen und
Herrschen“ ist dabei keineswegs nur diskursiv zu fassen, sondern
materialisierte sich mitunter auch sehr konkret, wie von Marion von Osten und Serhat
Karakayalı in ihrer Analyse französischer Kolonialarchitektur in Casablanca
zeigen. Die Autor_innen beschreiben die hierarchische Ordnung der Stadt in „weiße“, „jüdische“ und „muslimische“
Viertel, wobei zweitere eine Art „Zwischenzone‘“ darstellten und letztere ganz
außerhalb der Kernstadt lagen (vgl. von Osten / Karakayalı 2009: 116).
Ein solcher analytischer Zugang, der die
ambivalente differentielle Inklusion jüdischer Kollektive ab dem 19.
Jahrhundert sowie die Radikalisierung hin zum eliminatorischen Antisemitismus
thematisiert und damit die Zuschreibung einer „Kompliz_innenschaft“ zwischen
jüdischen Kollektiven und europäisch-amerikanischem Imperialismus verunmöglicht,
ist bislang innerhalb der hier rezipierten dekolonialen Diskussionen
unterrepräsentiert. Prinzipiell fokussieren diese mehr auf antimuslimischen
Rassismus innerhalb der kolonialen Moderne und zeigen bezüglich der
Auseinandersetzung mit Antisemitismus zusätzlich die Tendenz, ihn ab der
israelischen Staatsgründung korrespondenztheoretisch als „selbstverschuldet“ zu
postulieren (vgl. Gordon, Grosfoguel
& Mielants 2009; Tamdgidi et
al. 2006, 2010). Es wäre meiner Einschätzung nach daher wichtig, solche
Perspektiven zu stärken, nicht zuletzt deshalb, weil sich die eben explizierte
Logik in einigen Texten wiederfindet – beispielsweise bei Mignolo. Slabodsky,
der sich zwar auf Mignolos Arbeiten bezieht, argumentiert daher im Grunde auch
gegenläufig zu diesem, wenn es um Israel und die Rolle von Jüdinnen und Juden
als rassifiziertes Kollektiv geht. Anstatt, wie Mignolo, die Figur der/des
„konstantinischen Jüdin/Juden“ in Kompliz_innenschaft mit Kapital und
Imperialismus zu setzen, analysiert er vielmehr die Funktion unterschiedlicher Rassifizierungsformen als ideologischen
Überbau der kolonialen Moderne. Mignolo hingegen reproduziert mit einer
verkürzten Rezeption von Marc Ellis´ Kategorie der/des „Constantinian Jew“ und
deren Verbindung mit seiner Kritik am israelischen Staat die von Slabodsky
kritisierte Logik der spezifischen Rassifizierung jüdischer Kollektive als
„intermediäre und fortgeschrittene imperialistische Kraft“. Diese Verkürzung
möchte ich im Folgenden illustrieren, indem ich abschließend Mignolos Rezeption
mit Ellis´ ursprünglicher Konzeption der/des „Constantinian Jew“ abgleiche.
Marc Ellis beschäftigt sich im gleichen
Band mit Kritik am israelischen Staat aus jüdischer, befreiungstheologischer
Perspektive und differenziert in diesem Zusammenhang drei unterschiedliche
politische „jüdische Subjektpositionen“, die sich für ihn in aktuellen Debatten
um Israel, Antizionismus und Antisemitismus manifestieren. Diese benennt er als
„progressive“, „bewusste“ und „konstantinische Jüdinnen und Juden“ [„Progressive“, „Conscious“ und „Constantinian
Jews“]. Die beiden ersten
Kategorien bezeichnen Personen mit links-liberalen bis links-radikalen
Einstellungen; „Progressive Jews“ sind dabei Post- oder Nicht-Zionist_innen,
die allerdings Israel als jüdischen Staat nicht in Frage stellen, während „Conscious Jews“ – zu denen Ellis sich
offensichtlich auch selbst zählt – dies sehr wohl tun. Ihnen gegenüber steht
die Figur des „Constantinian Jew“, mit der rechts-liberal bis
rechts-konservative und dem israelischen sowie US-amerikanischen Establishment
angehörende Personen beschrieben werden. Ellis kreiert also mit den drei
Begriffen empirische Kategorien,
wobei letztere eine rechts-konservative Subjektposition darstellt, die sich in
realen Personen manifestieren kann oder auch nicht. Das Risiko der Verkürzung,
das jeder empirischen Kategorisierung von Personengruppen zugrunde liegt, zeigt
sich in Mignolos Rezeption sehr deutlich. In dieser finden sich nämlich
problematische Auslassungen, welche gerade die letzte empirische Kategorie zu
einer essentialistischen Gruppenbeschreibung ontologisieren. Erstens rezipiert
er ausschließlich die/den „Constantinian Jew“, die/der aktuellen Antisemitismus
gleichsam herausfordere, als einzig erwähnenswerte und damit generalisierte
jüdische Subjektposition – eine Darstellung, die von Ivana Marjanović zu Recht
als antisemitisch kritisiert wird (vgl. Marjanović 2012). Zweitens ist
anzumerken, dass Ellis mit seiner Kategorisierung im Grunde auch auf
antagonistische politische Positionen
verweist, die sich zum Teil zwar auf jüdische Geschichte und Identitäten
berufen, aber nichtsdestotrotz eben politisch
sind und daher nicht ausschließlich aus einer identitätspolitischen und
essentialistischen Perspektive diskutiert werden können und sollen. Diesen
Punkt, der zugegebenermaßen auch bei Ellis eine recht untergeordnete Rolle
spielt[9],
ignoriert Mignolo in seiner Rezeption der Kategorie der/des „Constantinian Jew“
ebenfalls vollkommen. Drittens legt Ellis ein Augenmerk auf die spezifische
Geschichte jüdischer Rassifizierung und vor allem Verfolgung, die er auf die
Transformationen jüdischer politischer Selbstverständnisse und Positionierungen
nach Auschwitz sowie nach der israelischen Staatsgründung umlegt (vgl. Ellis
2009: 109f). Dieser differenzierte Blick verunmöglicht es, aus einer Logik der
Kompliz_innenschaft, wie sie sich bei Mignolo manifestiert, zu argumentieren
und einen unproblematischen, komplizenhaften Übergang vom rassifizierten zum
„konstantinischen“ jüdischen Kollektiv zu postulieren.
Ausgehend von Mignolos Setzung
des „Constantinian Jew“ als generalisierte Subjektposition möchte ich abschließend
auf argumentative Leerstellen und Auslassungen der Debatte hinweisen. So weist die
verkürzte Darstellung jüdischer Emanzipation sowie säkularer und
„konstantinischer“ Jüdinnen und Juden argumentative Widersprüche auf und führt
damit die Überlegungen des Autors bezüglich des einleitend diskutierten
dekolonialen Gehalts bei Marx in gewisser Weise ad absurdum. Zum einen wird von
ihm der gesellschaftskritische Beitrag Freuds weitgehend ausgespart. Zweitens,
endet die Argumentation widersprüchlich: denn während bei Marx die unter die
Haut gehende rassifizierende antisemitische Unterdrückung und Ausgrenzung zu
Gesellschaftskritik führt, wird dies bei “Constantinian Jews“ – derer nämlich,
die historisch betrachtet ebenfalls jüdische Emanzipation und „Assimilation“ in
ein sie diskriminierendes Kollektiv vorantrieben – zu einer freiwilligen
Kompliz_innenschaft mit dem Kapital. Meine Argumentation ist, dass solche analytischen
Inkonsistenzen nicht zufällig sind, sondern systematisch in Zusammenhang mit
polemischen israelkritischen Positionierungen auftreten – und dass dies als
antisemitische Deutung analysiert werden muss. Zudem macht es erst mit einem
solchen Framing Sinn, dass alle zitierten Autoren korrespondenztheoretische
Analysen des Antisemitismus nach 1945 formulieren. Mignolo, Ellis und
Grosfoguel konstatieren durchwegs ein im Verlauf des 20. Jahrhunderts
vonstattengehendes jüdisches „Aufgehen“ im „weißen (imperialistischen) Kollektiv“
und betrachten aktuellen Antisemitismus als Reaktion auf die Gründung Israels
sowie dessen aktuelle Politik. Eine Argumentation allerdings, die die
israelische Staatsgründung als „Stunde Null“ postuliert, vergisst, dass diese
unmittelbar mit genozidaler antisemitischer Rassifizierung in Zusammenhang stand.
Auch in Bezug auf die Einschätzung, dass antimuslimischer Rassismus nach 9/11 die
hegemoniale Form des Otherings
darstelle und jüdische Personen eigentlich dominanzgesellschaftlich zu verorten
seien, bleiben essentielle Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem
europäischen Kontext ausgeklammert. So verbessert sich in den USA der sozioökonomische
Status jüdischer Communities nach dem zweiten Weltkrieg und der damit
zusammenhängende soziale Aufstieg leitet
einen Prozess der Inklusion über De-Rassifizierung bzw. „Whitening“ ein (vgl. Brodkin
2010). Anders der europäische Kontext; nach dem Holocaust verbleiben hier zum
einen nur sehr kleine jüdische Communities und es erfolgt eher eine
differentielle Inklusion in die jeweiligen nationalstaatlichen Mehrheits- bzw.
Dominanzgesellschaften. Durch solche Auslassungen folgt die Debatte einer Logik
der „Betroffenheitskonkurrenz“: interessante Auseinandersetzungen mit historischen
Genealogien von Antisemitismus und Rassismen enden recht abrupt im 20.
Jahrhundert und Analyse wird zu politischer Polemik. Im Folgenden illustriere
ich solche Wendungen anhand politischer Positionierungen zum israelischen Staat
und arbeite heraus, dass strukturell antisemitische Deutungsmuster in
gewandelter Form auf Israel projiziert werden.
3.2 Israel – eine koloniale Supermacht?
Im Folgenden beschäftige
ich mich mit den Beiträgen aus dem Sammelband von Human Architecture, die explizit auf den Zusammenhang von
Nahostkonflikt und Antisemitismus eingehen (vgl. Ellis 2009; Grosfoguel 2009, Mignolo 2009a, Slabodsky 2009). Grundsätzlich
ist dabei kritisch anzumerken, dass die von mir rezipierten Beiträge die
israelische Staatsgründung aus korrespondenztheoretischer Perspektive als Grund für das aktuelle Ansteigen eines
„neuen Antisemitismus“ diskutieren. Doch auch wenn empirisch einiges dafür spricht,
dass sie als ein Auslöser für neuen Antisemitismus betrachtet werden kann, so
kann sie sicher nicht zu dessen Ursache
stilisiert werden. Genau das passiert allerdings in allen Texten – in Bezug auf
Israel wird durchwegs aus einer schuldzuweisenden Perspektive argumentiert,
während aktueller Antisemitismus in der arabischen Welt beispielsweise ausschließlich
als reaktives Phänomen beziehungsweise gar nicht diskutiert wird. Zudem findet
sich bei keinem der Autoren ein Hinweis auf die politische Bandbreite von
Zionismen und somit auch keinerlei Verweis auf emanzipatorische Ansätze, wie
sie beispielsweise rund um die Gruppe „Brit Shalom“ entwickelt wurden – ganz zu
schweigen von deren Funktion als jüdische nationale Befreiungsbewegung. Dies
verwundert aber nicht weiter, da es Bestandteil der politischen Programmatik
der hier rezipierten Beiträge ist, den jüdischen Staat als „installierten Kolonialstaat“
zu konstruieren, der quasi die politische Antithese zur nationalen
Befreiungsbewegung darstellt und somit unmöglich deren Ergebnis sein kann.
Mignolo setzt dieser einseitigen Sichtweise allerdings im Vergleich die Krone
auf, indem er – wie bereits kritisiert – eine direkte Linie von „Constantinian
Jews“ zur israelischen
Staatsgründung (beziehungsweise kolonialen Installation des Staates) zieht und
diese ahistorische Darstellung an keiner Stelle durch die weitaus komplexeren historischen Informationen unterfüttert,
wie sie beispielsweise Lewis Gordon, Ramón Grosfoguel und Eric Mielants in
ihrer Einleitung zur Spezialausgabe diskutieren (dies., 2009: 5f). Konsequenterweise
ignoriert die postulierte Kompliz_innenschaft mit Kapital und Neo-Kolonialismus
daher auch die Tatsache, dass der Großteil der etwa 290.000 Einwanderer_innen
ab Beginn der 1930er Jahre bis Anfang der 1940er aus europäischen Flüchtlingen
und somit Überlebenden der Shoah bestand, weshalb der marxistische israelische
Geograph Oren Yiftachel diese Einwanderungswelle auch als „colonialism of
survival“ bezeichnet (Yiftachel 2008: 369; vgl. hingegen für eine Kritik an der
überproportionalen Bewertung dieses Prozentanteils sowie der Koppelung von
Shoah und israelischer Staatsgründung: Brumlik 2007: 28f).
Kritisch zu beleuchten sind auch Mignolos
Positionen zur geopolitischen Rolle des Staates Israel, dessen Existenz er
prinzipiell als vom Westen unterstützte jüdische Kolonisierung Palästinas und
damit als politischen Auslöser für die Herausbildung des postkolonialen Theoriestranges
Saidscher Prägung
betrachtet (vgl. Mignolo 2007a: 163; 2009b: 41). Darüber hinaus gilt ihm der
israelische Staat als ein Beispiel für eine extreme Ausformung
orientalisierender kolonialer Machtausübung, die aufgrund ihrer
außerordentlichen Repression „third spaces“ und Hybridität gleichsam
verunmöglicht und somit auf die Zerstörung der kolonisierten ´Kultur´
hinauslaufen muss (vgl. ders. 2002: 934). Diese Sichtweise ignoriert ganz
prinzipiell, dass rund ein Fünftel der israelischen Bevölkerung aus misrachischen
– also arabischen beziehungsweise nicht-europäischen – Jüdinnen und Juden besteht;
eine Ausblendung, die sich in das einseitige Bild einfügt. Yiftachel kritisiert
die analytischen Schwachpunkte einer solchen „orientalistischen“ beziehungsweise
„agambenistischen“ Sichtweise, welche jegliche Information ignoriert, die nicht
in das Bild totaler Repression gegenüber Palästinenser_innen passt. So wird beispielsweise
die Existenz palästinensischer Israelis, die ebenfalls rund ein Fünftel der
israelischen Bevölkerung ausmachen, ausgeklammert und die Tatsache negiert,
dass Israel einen Zufluchtsort für verfolgte Palästinenser_innen darstellt.
Außerdem ignoriere die Darstellung lokalen antirassistischen Widerstand und
nicht zuletzt die Dialektik von (beidseitiger) Gewalt und zeichne somit ein
monolithisches, dämonisiertes Bild des israelischen Staates (vgl. Yiftachel
2008: 365ff). Dies ist einerseits eine Folge der kompletten Ignoranz gegenüber
post-zionistischer „Hybridität“, die neben Checkpoints, rechten Siedlungsprojekten
und Sperranlagen ebenfalls Teil israelischer Realität ist. Gemeinsam mit einem
politischen Diskurs, in dem NS-Metaphern für israelische Politik herhalten,
während Attentate von palästinensischer Seite ausschließlich als legitime
antikoloniale Gewalt erscheinen, schafft dies – so Yiftachel – ein
problematisches, systematisch verzerrtes Bild. An dieser Stelle sei noch kurz
angemerkt, dass der Autor eine alles andere als apologetische Haltung gegenüber
dem israelischen Staat einnimmt – vielmehr analysiert er diesen als „Siedler_innenkolonie“
und „ethnokratisches Regime“ und ist ein langjähriger Kritiker dessen
„schleichender Apartheidpolitik“ (vgl. Yiftachel 2005, 2008). Allerdings – und
das macht meines Erachtens den entscheidenden Unterschied aus – tut er dies
analytisch sowie unter Einbezug historischer Fakten und nicht aus einer
polemischen Perspektive, wie die hier kritisierte. Infolgedessen fokussiert er
in seiner Arbeit auch nicht ausschließlich auf Israel, sondern diskutiert die
israelische Politik komparativ, etwa im Abgleich mit anderen ethnokratischen
Regimen wie Serbien, Sri Lanka oder dem Sudan (vgl. Yiftachel 2008: 367). Das
hier kritisierte „orientalistische“ beziehungsweise monolithische Zerrbild
zieht sich auch durch unzählige anti-israelische Divestment- oder
Boykott-Aufrufe und Veranstaltungen wie exemplarisch am – von Mignolo ebenfalls
unterstützten – Aufruf „Boycott Israel? Amitav Ghosh & the Dan David Prize“[10] aus
dem Jahr 2010 nachvollzogen werden kann. Als Teil der US Campaign for the
Academic and Cultural Boycott of Israel reiht sich dieser Aufruf in die seit
2005 transnational organisierten BDS-Aktivitäten ein. Wie in vielen anderen Boykottaufrufen
steht auch hier das oben beschriebene (neo-)koloniale Framing des
Nahostkonfliktes und des israelischen
Staates im Mittelpunkt der Kritik und die Boykott-Bereitschaft wird so zur
Voraussetzung für eine linke, progressive Positionierung. Abgesehen von
Fußnoten und Nebensätzen, die diese kritische politische Position in Bezug auf
den israelischen Staat reflektieren, findet sich in Mignolos Texten sonst
allerdings recht wenig Dezidiertes zum Thema Israel – was seine polemische
Conclusio in „Dispensable and Bare Lives“ allerdings umso befremdlicher
erscheinen lässt. Sehr explizit auf den
israelischen Staat fokussiert hingegen der Beitrag von Ramón Grosfoguel
im selben Band, weshalb ich im Folgenden auch stärker auf seinen Text eingehe.
Grosfoguels
grundsätzliches Argument in seinem Text „Human
Rights and Anti-Semitism after Gaza“ ist jenes, dass die israelische
militärische Intervention im Gaza-Streifen im Dezember 2008 das
symbolische Ende des hegemonialen (westlichen beziehungsweise
euro-amerikanischen) Menschenrechts-Regimes darstelle, dessen neo-koloniale Funktion
entlarvt worden sei. Erstens sei die israelische Militärintervention in Gaza
„the most visible example of the colonial consequences of the ´War against
Terrorism´ used today as the main
mechanism of state terrorism around the world to fight liberation movements“ (Grosfoguel 2009: 91, meine
Hervorhebung); damit sei sie also als
Brennpunkt im globalen „Krieg gegen den Terror“ zu verstehen. Zweitens zeigt
sich für Grosfoguel im Umgang der internationalen Gemeinschaft mit der
Eskalation des Gaza-Konfliktes, dass es sich bei dieser um ein
imperialistisches, US-dominiertes Menschenrechtsregime handle, wodurch die
Frage nach „universellen Menschenrechten“ neu gestellt werden müsse (ebd. 91f). In beiden
Schlussfolgerungen fungiert der israelische Staat diskursiv also als
„Brennpunkt des Weltgeschehens“ und insofern ist Gaza für Grosfoguel auch der
logische historische Ausgangspunkt für eine radikale – und globale – Auseinandersetzung
mit Neo-Kolonialismus und Neo-Imperialismus. Beide Schlussfolgerungen bedienen,
so mein erster Kritikpunkt, strukturell antisemitische
Allmachts-Deutungsmuster.
Weiters postuliert
Grosfoguel in seiner Kritik, dass
Zionismus (und zwar jede Form) nach der Intervention in Gaza endgültig als
„racist, apartheid, settler colonialist project resorting to ethnic cleansing
and Nazi-like atrocities” (ebd.: 92,
meine Hervorhebung) demaskiert sei. Diese Polemik verschweigt wiederum das
weite, von links bis rechts reichende politische Spektrum unterschiedlicher
Zionismen sowie deren historische Veränderung nach der israelischen
Staatsgründung (vgl. Yaʿakovi 2004; Zuckermann 2009). Der marxistische israelische Soziologe Moshe Zuckermann
beispielsweise formuliert eine klare Kritik an den ideologischen Elementen des staatstragenden
Zionismus und sieht in der Besatzungspolitik ab 1967 die rechte Wende des
zionistischen Projektes. Dabei negiert er allerdings weder die Bandbreite und
die emanzipatorischen Elemente zionistischer Ideen noch deren Funktion als
jüdische Befreiungsbewegung; er selbst bezeichnet sich daher auch nicht als
Anti-Zionist, der das politische Projekt a priori ablehnt, sondern vielmehr als
Nicht-Zionist, der dessen antiemanzipatorische Wende kritisiert. Innerisraelische
linke Kritik zielt laut Zuckermann auf eine Verbesserung der politischen
Situation ab und niemals darauf, den Staat als Ganzes in Frage zu stellen oder
gar abzuschaffen. Insofern beurteilt der Autor auch Diskussionen über das „Existenzrecht“
Israels als uninformierte und daher unzulässige Polemik – und dies gilt noch
einmal mehr, wenn solche Debatten in postnazistischen Täter_innen-Kontexten wie
Deutschland oder Österreich geführt werden (vgl. Zuckermann 2003: 15/42f).
Daher soll an dieser Stelle auch noch einmal explizit auf die teilweise eklatante
Geschichtsvergessenheit und damit zusammenhängende problematische
Doppelstandards bei der Bewertung des kollektiven Wunsches nach nationaler
Selbstbestimmung hingewiesen werden. So
entstand der Zionismus im ausgehenden 19. Jahrhundert in einer Situation einer radikalisierenden
antisemitischen Diskriminierung und Ausgrenzung und diese Geschichte kann nicht
ausgeblendet werden. Denn, um es mit dem Konfliktforscher Herbert Kelman
auszudrücken: „(…) unter allen nationalen Befreiungsbewegungen die
jüdische nationale Befreiungsbewegung als von Natur aus rassistisch zu
bezeichnen, erscheint […] illegitim und tatsächlich selbst rassistisch – oder,
in anderen Worten, antisemitisch“ (Kelman 2008: 247).[11]
Im
Anschluss an die einseitige Darstellung von Zionismus als rassistische
Staatsideologie fährt Grosfoguel mit einer dramatisch verkürzten, weil
wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem NS völlig außer Acht lassenden
und daher ideologisch anstatt analytisch argumentierenden, Diskussion fort,
inwieweit „Nazismus“ („Hitlerism“
i.O., eigene Übersetzung) der adäquate Ausdruck für die israelische
Besatzungspolitik sei. Dabei kommt er zu folgendem Schluss: „Gaza is today the equivalent continuity of the Warsaw ghetto“ (ebd.: 93,
meine Hervorhebung). Nachdem sich der israelische Staat allerdings zu keinem
Zeitpunkt die Auslöschung der Palästinenser_innen zum Ziel setzte, ist diese
Gleichsetzung eine unhaltbare Relativierung der Shoah. Zudem fügt sich
Grosfoguel mit seiner „Analyse“ nahtlos in eine Dämonisierungslogik in puncto
Israel ein, die sich global in unterschiedlichsten linken Kontexten manifestiert
und beispielsweise von Nora Sternfeld in Bezug auf die europäische
globalisierungskritische Bewegung problematisiert wurde (vgl. Sternfeld 2006).
Abgesehen von
der notwendigen Kritik derartiger Analogien, müsste einer solcherart
relativierenden Polemik meines Erachtens mit informierten Analysen der
Besonderheit des NS sowie mit einer theoretisch fundierten Auseinandersetzung
mit Transformationen des Antisemitismus nach 1945 begegnet werden – eine
Perspektive, die den hier kritisierten dekolonialen Ansätzen fehlt.
Konsequenterweise schafft Grosfoguel in seiner Conclusio dann auch
„Antisemitismus“ als analytische Bezeichnung für die spezifische Form der Rassifizierung
von Jüdinnen und Juden gleich ganz ab, indem er erstens rundheraus behauptet
Antisemitismus sei in jeder Hinsicht von antimuslimischem Rassismus abgelöst
worden und letzteren zudem als „anti-Arab/Muslim anti-Semitism“ bezeichnet (Grosfoguel
2009: 96). Das gleichzeitige Gegeneinander-Ausspielen und analytische
Verwischen von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus ist eine in den
hier rezipierten dekolonialen Debatten verbreitete Argumentationslinie, die an
das diskursive Element der Allmachtphantasien anknüpft und dieses sozusagen
umkehrt, indem behauptet wird, muslimische Kollektive hätten die Rolle des
gleichzeitig globalen und inneren Feindes übernommen. Dadurch wird auf
rhetorischer Ebene Antisemitismus negiert und die Negation mit dem aktuell
virulenteren antimuslimischen Rassismus legitimiert. Dessen prinzipielle
Virulenz soll hier auch nicht in Abrede gestellt werden, ebenso wenig wie die
Tatsache, dass zumindest im europäischen hegemonialen Migrationsdiskurs
Überschneidungen zwischen antisemitischen Deutungsmustern und der aktuellen
„Angst vor schleichender Islamisierung“ sowie vor dem ständig wachsenden, in
„parallelgesellschaftlichen Staaten im Staat“ wohnhaften „inneren
(islamistischen) Feind“ bestehen. Allerdings bleibt, wie empirische
Untersuchungen während der letzten Finanzkrise zeigen, der Topos der
„Weltverschwörung“, also eines machtvollen, weltumspannenden Netzwerkes mit
Vernichtungspotenzial, weiterhin ausschließlich jüdisch konnotiert (vgl.
Stögner 2012). Eine politische Polemik wie die von Grosfoguel ist also insofern
problematisch, als sie auf der Logik einer Opferkonkurrenz basiert und dadurch
die notwendige analytische Differenzierung zwischen den beiden unterschiedlichen
Rassifizierungsformen in Frage stellt.
Das
Ignorieren beziehungsweise Negieren von aktuellem Antisemitismus ist meiner
Ansicht nach symptomatisch für de- und postkoloniale politische
Positionierungen, die ihre Analysen mit Kritik am israelischen Staat vermischen
und diesen als „Täterstaat“ in Kompliz_innenschaft mit Kapital und
neo-kolonialem Weltsystem betrachten. Denn nachdem dies – wenn auch auf
unterschiedliche Weise – für alle Staaten (einschließlich der wenigen
übriggebliebenen kommunistischen) gilt, möchte ich an dieser Stelle wieder auf
die analytische Inkonsistenz hinweisen. Dabei sollen selbstverständlich nicht
neokoloniale Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse zwischen globalem Süden
und Norden negiert, sondern lediglich in Erinnerung gerufen werden, dass sich
kein Staat außerhalb des neoliberalen kapitalistischen Weltsystems befindet und
dessen nationale Eliten diesem insofern „komplizenhaft“ verbunden sind. Die
hier kritisierte verabsolutierende Logik fußt daher meines Erachtens auf einer
strukturell antisemitischen Personalisierung von Kapital. Diese funktioniert
allerdings nicht in der altbekannten Form des „jüdischen Bankiers“ oder des
„jüdischen Finanzkapitals“, sondern in der Figur der/des „Constantinian Jew“,
die in Mignolos Polemik beispielsweise gleichermaßen für Israel stehen kann wie
auch für ein imperialistisches, neo-koloniales Weltsystem. Diese Tendenz, Israel auf problematische Weise zum Dreh-
und Angelpunkt für geopolitisches Weltgeschehen und die Position zu dem Staat
damit zum linken Lackmustest zu stilisieren, ist allen Beiträgen des erwähnten
Sammelbandes sowie auch aktuellen de- und postkolonialen Debatten gemeinsam. Ein
derart einseitiges und uninformiertes Nahost-Expert_innentum
sollte kritisch beleuchtet werden, weshalb ich im Folgenden mögliche
Anschlussfelder für eine weitergehende Diskussion vorschlage.
4. Is it or is it not? Abschließende
Bemerkungen zu innerlinken Debatten um Antisemitismus
Abschließend beziehe ich die hier
rezipierten dekolonialen Diskussionen zurück auf die eingangs erwähnten Wiener
Debatten, wobei es mir auch darum geht, spezifische Dynamiken innerlinker Auseinandersetzungen
um Antisemitismus im postnazistischen Raum zu skizzieren. Aufbauend auf eigenen
Beobachtungen und Erfahrungen möchte ich „Dead Ends“ der Auseinandersetzung zur
Diskussion stellen, um einen neuen Raum für Auseinandersetzungen zu eröffnen.
Angesichts
des meiner Meinung nach symptomatischen sowie problematischen Fokus auf Israel
rege ich zunächst prinzipiell an, den Schwerpunkt der Auseinandersetzung in zweierlei Hinsicht zu verschieben: Zum einen ginge es darum, danach zu
fragen, wann und wieso Israel seinen
aktuellen Symbolcharakter annimmt und zum „Brennpunkt“ von globalem
Neo-Kolonialismus und Imperialismus wird. Zweitens wäre es angebracht, sich mit
potenziell (und auch faktisch)
antisemitischen Effekten einer solchen einseitigen Nahost-Expertise auseinander
zu setzen. Dazu wäre eine weitere Auseinandersetzung mit den hier kritisierten
analytischen Inkonsistenzen notwendig, wobei problematische Deutungsmuster mit
dem Analyseinstrument „struktureller Antisemitismus“ herausgearbeitet werden
könnten. In diesem Sinn soll mein Beitrag auch weitere Diskussionen,
Widerspruch, etc. anstoßen, um eine differenzierte Debatte voranzutreiben.
In dem
Zusammenhang finde ich es wichtig, sich zunächst in Erinnerung zu rufen, dass
Auseinandersetzung über antisemitische Deutungsmuster in linken/linksradikalen
Kontexten weder ein neues noch ein ausschließlich de- oder postkoloniales
Phänomen sind. Vielmehr haben solche Debatten in postnazistischen linken
Kontexten eine jahrzehntelange Geschichte und kulminierten sicherlich mit dem
Entstehen der so genannten „antideutschen“ Kritikströmung und deren Kritik an antisemitischer
antiimperialistischer Palästinasolidarität ab Beginn der 1990er Jahre. Der Ablauf
solcher Auseinandersetzungen weist dabei meiner Beobachtung nach spezifische
Dynamiken auf, die zu Frontstellungen und damit zu Dead Ends der
Auseinandersetzung führen können. Prinzipiell entstehen diese innerhalb zweier
Auseinandersetzungsfelder, von denen ich eines in Anlehnung an Messerschmidt
(2008) als „Opfer- oder Betroffenheitskonkurrenzen“ bezeichnen würde und das
zweite als Spannungsfeld rund um das Analyseinstrument „struktureller
Antisemitismus“. Ich beende meinen Text mit einer kurzen Reflexion darüber, die weitere Diskussionen anregen soll.
„Opfer-“ oder
„Betroffenheitskonkurrenzen“ treten meist im Überschneidungsfeld
antirassistischer Kritik und Kritik am Antisemitismus auf und sind damit Teil
politischer Auseinandersetzungen in einer postkolonialen und postnazistischen Migrationsgesellschaft.
Sie manifestieren sich unterschiedlich, funktionieren jedoch prinzipiell so,
dass Rassismus und Antisemitismus und damit das Ausmaß der jeweiligen
Betroffenheit von der spezifischen Rassifizierung gegeneinander „aufgewogen“
werden. Das kann sich einerseits in erinnerungspolitischen Debatten äußern, in
denen es darum geht, ob die Shoah oder der Kolonialismus das „schlimmere“
Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewesen sei, ob in diesem Zusammenhang die
These der Besonderheit und Einzigartigkeit der Shoah haltbar sei oder eine rein
eurozentristische Perspektive widerspiegeln würde; außerdem wird diskutiert, inwieweit
die paradigmatische Erinnerungsfunktion der Shoah die kritische Auseinandersetzung
mit dem europäischen Kolonialismus verhindern würde. In Migrationsdebatten
äußert sich diese Konkurrenzlogik beispielsweise in Debatten über das
Verhältnis von Antisemitismus und „Islamophobie“. Konkret wird darüber
gestritten, ob Antisemitismus im letzten Jahrzehnt von antimuslimischem
Rassismus abgelöst worden sei oder nicht. Mitunter geht es dabei auch um die
Frage eines neuen, „islamisierten“ Antisemitismus und in diesem Zusammenhang
darum, ob und inwieweit der Vorwurf des Antisemitismus von der postnazistischen
Dominanzgesellschaft auf Minderheiten – in diesem konkreten Fall muslimische
Minderheiten – ausgelagert würde. Die extremeren Ausformungen solcher Debatten laufen
dabei darauf hinaus, Antisemitismus als Analysekonzept zu dekonstruieren – eine
Position, die sich auch bei Ramón Grosfoguel findet. In der Gegenposition wird
Rassismus gegen muslimische Personen bagatellisiert beziehungsweise zuweilen
auch als inexistent, weil nicht auf biologistischen Rassekonstruktionen fußend,
bezeichnet – diese Extremposition findet sich in einigen antideutschen
politischen Kontexten. Beide Dynamiken folgen dabei der Logik eines
Nullsummenspiels, nach der die eine Form der Rassifizierung vor der Konkurrenz
der anderen „gerettet“ werden muss. Dies ist allerdings einer analytischen
Diskussion über empirisch beobachtbare Überschneidungen sowie notwendige
Differenzierungen zwischen den beiden Rassifizierungsformen einigermaßen
abträglich. Krude wird es zudem dann, wenn sich die Nullsummenlogik mit Kritik
am israelischen Staat vermischt und im Extremfall Analogien zwischen NS und dem
israelischen Staat gezogen werden – auch dies kann bei Grosfoguel nachgelesen
werden. All den Debatten liegt eine ähnliche Dynamik zugrunde, die dann
entsteht, wenn antisemitische Äußerungen von einer selbst von Rassismus/Rassifizierung
betroffenen Person artikuliert werden. Die beschriebene Nullsummenperspektive
erschwert bis verunmöglicht in diesem Fall das Benennen von Antisemitismus als
auch eine weitere Auseinandersetzung damit. Dies hängt mit der oben
beschriebenen Dynamik zusammen, dass die Betroffenheit von Rassismus/Rassifizierung
und Antisemitismus gegeneinander aufgewogen werden und letzterer angesichts des
aktuellen Migrationsregimes als weniger schlimm beziehungsweise aktuell weniger
virulent betrachtet wird und/oder korrespondenztheoretisch durch das neo-koloniale
Framing des Nahostkonflikts „erklärt“ wird.
Das zweite Auseinandersetzungsfeld
betrifft Debatten rund um das analytische Konzept „struktureller
Antisemitismus“, das bei Weitem kein unumstrittenes ist. In
linken/linksradikalen Kontexten wurde das Konzept hauptsächlich von
antideutschen Aktivist_innen bekannt gemacht und wird daher auch stark mit
diesem – politisch zum Großteil marxistisch-wertkritisch verorteten – Spektrum assoziiert.
Bei Debatten über „strukturellen Antisemitismus“ beziehungsweise „verkürzte
Kapitalismuskritik“ werden von deren Kritiker_innen mehrere Punkte bemängelt.
Zum einen wird argumentiert, dass es sich bei der Wertkritik um eine ihrerseits
verkürzte Marxrezeption handle, in der nur die ersten Kapitel von Marx´ Kapital
Eingang fänden. Sehr kritische Positionen halten dieses Aufzeigen einer falschen,
projektiven Kapitalismuskritik schlichtweg für eine unzutreffende Analyse und
die Kritik an linkem Antisemitismus tendenziell für übertrieben und hysterisch.
Ein Element der hier beschriebenen Auseinandersetzungen sind Diskussionen
darüber, inwieweit die jeweils kritisierte politische Artikulation (sei es eine
Aussage, eine Handlung, ein Flyer, etc.) tatsächlich antisemitisch – beziehungsweise
umgekehrt formuliert – inwieweit die geäußerte Kritik daran übertrieben sei.
Solche Argumentationsmuster finden sich auch in den aktuellen Wiener Debatten
und Reaktionen auf den offenen Brief Eduard Freudmanns wieder. Während der
analytische Beitrag Ivana Marjanovićs leider keine nennenswerte Reaktion
hervorrief, wurden auf dem Blog „Antisemitismus!
Was tun?“ einige durchaus emotionale Kommentare zu Eduard Freudmanns Kritik an
Walter Mignolo gepostet. Prinzipiell wird kritisiert, dass in der Intervention
ein generelles Rezeptions-Verbot von Mignolo oder dekolonialen Positionen
verlangt würde. In den Debatten dazu wird der Autor zudem als hysterischer
Selbstdarsteller bezeichnet, der als „Superjew“ identitäre Politik ohne
Argumente, dafür aber mit viel „Profilierungssucht“, betreibe und „mignolosche
Dummheiten“ aufbausche.[12]
Aufgrund der stark desavouierenden Rhetorik möchte ich daher zunächst einmal
eine Prämisse in Erinnerung rufen, die für jede
Kritik diskriminierender Rassifizierung gilt: Setzt sich eine davon betroffene
Person dagegen zur Wehr, dann ist diese Intervention grundsätzlich ernst zu
nehmen, da ein Herunterspielen der Kritik die Gewalt letztendlich perpetuiert!
Darüber hinaus will ich mit meiner Analyse dekolonialer Debatten zu neuem
Antisemitismus darauf hinweisen, dass Eduard Freudmann auch keineswegs ein paar
einzelne „Dummheiten“ aufbauscht. Vielmehr handelt es sich um politische
Artikulationen, die sich zum Teil antisemitischer Deutungsmuster bedienen und
systematisch auftreten, wenn de- beziehungsweise postkoloniale Kritik am
israelischen Staat und die Analyse aktueller Rassifizierungsformen zusammen
fallen.
Das Analysekonzept „struktureller
Antisemitismus“, verstanden als diskursanalytische Ressource zur
Auseinandersetzung mit politischen Frames, ermöglicht es, solche „Dummheiten“
als sich wiederholende Deutungsmuster zu analysieren und ist somit ein
wichtiges Instrument für innerlinke Selbstreflexion. Daher will ich abschließend
kurz zur Diskussion stellen, warum dieses analytische Tool m.E. teilweise
heftig umstritten ist. Zum einen ist prinzipiell davon auszugehen, dass das
Benennen von Antisemitismus zu Abwehrreaktionen führt. Mich interessiert hier
aber eine andere Dynamik, denn ein weiteres auslösendes Moment vieler Debatten
ist meiner Beobachtung nach die Tatsache, dass das Konzept als Angriff auf
kapitalismuskritische Positionen verstanden wird; eine Wahrnehmung, zu der
nicht zuletzt der Name beiträgt. Die Bezeichnung „strukturell“ wird nämlich
mitunter so verstanden, als analysiere Postone jede Form antikapitalistischer Kritik als antisemitisch, was nicht
der Fall ist. Die Kritik kann dabei bis zu der politischen Einschätzung
reichen, dass eine Anwendung des Konzeptes jede Kapitalismuskritik verunmögliche, da auf einmal alles
strukturell antisemitisch sei. Dieser Standpunkt hat insofern etwas für sich,
als extreme antideutsche Positionen tatsächlich dazu tendieren, Antisemitismus
so schnell zu orten, dass der analytische Wert des Konzeptes dabei Schaden
nimmt – ganz zu schweigen von dem Schaden, den dies einer Kritik am
kapitalistischen Weltsystem und dessen neokolonialen Strukturen zufügt. Solche
Fehlrezeptionen ändern jedoch nichts an der wichtigen analytischen Perspektive
auf antisemitische Deutungsmuster, die das Konzept eröffnen könnte, würde es
nicht als Frontalangriff auf Kapitalismuskritik (miss-)verstanden und abgewehrt
werden.
Sowohl die obige Diskussion
problematischer dekolonialer Texte als auch die Illustration innerlinker
Debatten verweisen meiner Meinung nach auf die Notwendigkeit einer analytischen
Auseinandersetzung mit antisemitischen Elementen der de- und post-kolonialen linken
Theoriebildung und politischen Praxis – dies allerdings aus einer solidarischen
Perspektive. Dabei würde es darum gehen, „entfernte Verbindungen“, also
historische Genealogien und Überschneidungen sowie das Ineinanderwirken und das
Gegeneinander-Ausspielen unterschiedlicher Rassifizierungsformen zu
untersuchen, ohne dabei in Betroffenheitskonkurrenzen zu verharren.
Voraussetzung hierfür wäre meiner Meinung nach eine ausgeweitete Analyse von
Antisemitismus in de- und postkolonialen Kontexten und in diesem Zusammenhang
wäre es vor allem wichtig, eine analytische Auseinandersetzung mit der Spezifität
des modernen (Vernichtungs-)Antisemitismus und dessen ideologischer
Leitfunktion im NS anzuregen. Teil dieses Prozesses sollte zudem auch sein, das
Konzept des strukturellen Antisemitismus als analytische Ressource zu begreifen,
anstatt als Fundamentalkritik. So behaupte ich ja auch in meiner Kritik an
keiner Stelle, das Projekt Modernität/Kolonialität, oder gar Weltsystem- und Dependenztheorie seien per se strukturell antisemitisch, sondern streiche vielmehr
problematische Elemente der ersteren kritischen Perspektive heraus. Das gleiche
trifft auch auf Eduard Freudmanns offenen Brief und Ivana Marjanovićs kritische
Analyse zu – keine der beiden Interventionen muss als „Rezeptionsverbot“
gelesen werden und es stellt sich die Frage, warum diese Leshaltung zumindest in
Bezug auf den offenen Brief so eindeutig eingenommen wurde. Denn meiner Ansicht
nach soll sehr wohl kritisiert und diskutiert werden können, dass
Antisemitismus als diskursive Ressource zur Welterklärung dient; im Falle des
strukturellen Antisemitismus als Erklärung des ausbeuterischen und ungerechten
kapitalistischen Systems. Insofern ist eine Diskussion darüber auch kein
Angriff, sondern ein Beitrag zu antikapitalistischer linker Theorie und Praxis
und sollte daher auch weiterhin geführt werden.
Literatur:
Arendt, H. (1951): The origins of totalitarianism, New
York: Harcourt Brace and Company.
Arendt, H. (1986): Elemente
und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus und totale
Herrschaft [dt. orig.: 1955],
München/Zürich: Piper.
Brodkin, K. (2010): How Jews became white Folks and
what this says about Race in America, London/New Brunswick: Rutgers University
Press.
Brumlik, M. (2007): Kritik
des Zionismus, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt.
Butler, J. (2004): Der
Antisemitismusvorwurf. Juden, Israel und die Risiken öffentlicher Kritik, in:
Rabinovici, D., Speck, U. & Sznaider, N. (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine
globale Debatte, Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 60-93.
Ellis, M. (2009): On Jewish Particularity and
Anti-Semitism: Notes From a Jewish Theology of Liberation, in: Human
Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, Volume VII, Issue 2,
S. 103-122.
Garbe, S. (2012): Das
Projekt Modernität/Kolonialität in Gegenüberstellung mit postkolonialer Theorie
und als Herausforderung für die Kultur- und Sozialanthropologie – Eine
theoretische Übersetzungsarbeit anhand interkultureller Teamarbeit in
Argentinien“, Diplomarbeit, Universität Wien, Wien.
Gordon, L., Grosfoguel, R. & Mielants, E. (2009):
Global Anti-Semitism in World-Historical Perspective: An Introduction, in:
Human Architecture: Journal of the Sociology of Self-Knowledge, Volume VII,
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[1] http://antisemitismus-wastun.blogspot.com/
(5.7.2012)
[3] Ich beziehe mich hier in erster Linie auf
Sebastian Garbes Diskussion der dekolonialen Perspektive als südamerikanische
Variante postkolonialer Kritik und möchte ihm an dieser Stelle für seine
umfassende Einführung danken, ohne die ich meine Kritik nicht aus einer
(halbwegs) informierten, solidarischen Perspektive formulieren könnte.
[4] Moishe Postone beschäftigte sich aus
wertkritischer Perspektive mit der Logik und Funktionalität des
eliminatorischen Antisemitismus während des Nationalsozialismus. Im Fokus
seines Interesses stand dabei die Funktionsweise von Antisemitismus als kultureller
Code, der reaktionäre Gegenbewegungen zu
modernen Umwälzungen sowie zur Durchsetzung des kapitalistischen
Wirtschaftssystems einte. Das Konzept verweist auf die spezifische Funktion von
Antisemitismus als diskursive Ressource zur Welterklärung, in diesem konkreten
Fall zur Erklärung des kapitalistischen Weltsystems. Anhand der Nazi-Ideologie
erarbeitete Postone dabei die diskursiven Elemente dieser falschen, projektiven
Kapitalismuskritik, in der warenvermittelte Herrschaftsverhältnisse zu
personalisierten werden. Essentielle Elemente des strukturellen Antisemitismus
sind einerseits die falsche Unterscheidung zwischen „produktivem“ Industrie-
und „parasitärem“ Finanzkapital und die Gleichsetzung jüdischer Personen mit
letzterem beziehungsweise mit dem Kapitalismus als Ganzes; ein weiteres Element
ist die Konstruktion kapitalistischer Modernisierung und Entfremdung als
jüdisches Projekt und damit in Zusammenhang der Topos einer jüdischen
Weltverschwörung. Neu und spezifisch für post- beziehungsweise dekoloniale
Debatten, ist die Gleichsetzung jüdischer Kollektive und des israelischen
Staates mit einem als monolithisch konstruierten
kolonialistisch-imperialistischen „Westen“, womit dem Analysetool
„struktureller Antisemitismus“ meines Erachtens ein neues diskursives Element
beigefügt werden kann.
Für eine empirische Darstellung strukturell
antisemitischer Elemente des globalisierungskritischen linken Diskurses vgl.
Sternfeld 2006.
[5] Vgl. hierzu ausführlicher die Antwort von
Jens Kastner und Tom Waibel auf Eduard Freudmanns offenen Brief: http://argument-wasnun.blogspot.com/2012/05/replies-to-open-letter-antisemitism.html
(7.7. 2012)
[6] Vgl. zum Beispiel: http://www.bdsmovement.net/;
http://www.pacbi.org/; http://www.usacbi.org/; http://www.bds-info.ch/ (12.8.
2012)
[7] Als „Boomerang Effects“ bezeichnet Hannah
Arendt in der englischen Ausgabe der „Origins of Totalitarianism“ die
Rückspiegelung der burischen „Rassengesellschaft“ in Südafrika auf Europa. Mit
diesem wurde ihrer Analyse nach das biologistische Konstrukt „Rasse“ als
gesellschaftsorganisierendes übernommen und damit eines der Elemente des NS
(re-)importiert. In der deutschen Ausgabe taucht der Begriff in diesem
Zusammenhang nicht auf; hier weist Arendt darauf hin, dass die südafrikanischen
„Erfahrungen“ auf Europa „zurückschlugen“. In der Einleitung zum zweiten Teil
ihres Buches, in dem sie sich mit dem Imperialismus beschäftigt, spricht sie dann dezidiert vom potenziellen „Bumerangeffekt“
einer fortgesetzten imperialistischen
„Herrschaft über Untertanenrassen“ (vgl. Arendt 1986 [orig.: 1955]: 442; 275f).
[8] Mignolo übernimmt hier den Ausdruck
„Constantinian Jewish Establishment“ von dem US-amerikanischen jüdischen
Befreiungstheologen Marc Ellis, der damit rechts-liberale bis
rechts-konservative Gruppen beschreibt. Der Terminus wird von Mignolo falsch
rezipiert und als „Constantine Jewness“ wiedergegeben. Neben der falschen
Rezeption des Adjektivs soll hier vor allem darauf hingewiesen werden, dass „Jewness“
ein pejorativer Ausdruck ist, der als „Jüdischkeit“ übersetzt werden könnte.
„Jüdischkeit“ bezeichnet aus ressentimentgeladenen Zuschreibungen entstandene
Selbstpositionierungen und dabei konkret die partielle Übernahme
dominanzgesellschaftlicher rassifizierender Stereotype, die mitunter zur
„Jüdischkeit“, also zu einer Karikatur des jüdischen Selbst gerinnen können.
Neben „jüdischem Selbsthass“, also der totalen Übernahme von Stereotypen und
darauffolgender Selbstablehnung und -abwertung ist die Ausbildung von
„Jüdischkeit“ eine weitere mögliche psychologische Reaktionsform auf
alltägliche antisemitische Anfeindung (vgl. Arendt 1986: 165/169).
[9] Für eine explizit politisch
argumentierende Auseinandersetzung mit innerjüdischen Standpunkten in
US-amerikanischen Debatten um Israel, Antizionismus und Antisemitismus vgl.
Butler 2004.
[10]
Vgl. “Boycott Israel? Amitav Ghosh
& the Dan David Prize”: http://www.usacbi.org/2010/05/boycott-israel-amitav-ghosh-the-dan-david-prize/
(15.6. 2012). Für eine ausführlichere Darstellung unterschiedlicher
Boykottaktivitäten vgl. auch “Academic
and Culture Boycott of Israel: Colonialism, Orientalism, and Eurocentrism”: http://www.youtube.com/watch?v=Grqga4QMuOU (15.6.2012)
[11] Vgl. in diesem Zusammenhang auch Norman
Finkelsteins Kritik an derartigen Doppelstandards bezüglich nationaler
Selbstbestimmung sowie an den daraus folgenden problematischen Elementen
aktueller BDS-Kampagnen: http://www.youtube.com/watch?v=M7RWb24VKhA&NR=1&feature=endscreen
(12.8. 2012)